"Ich studiere jetzt"

55000 ältere Menschen besuchen die Universitäten. Es werden immer mehr. Und es geht unter Umständen auch ohne Abitur
München Ulrike Lutter studiert Kunstgeschichte, und sie ist eine der jüngsten hier. Freitags ab zehn sitzt sie mit ihren Kommilitonen in einem großen Saal im Bayerischen Nationalmuseum und hört Professor Steffen Krämer zu. Er spricht über Säulen, Kapitelle und Rippenbögen. Der Professor ist 50. Ulrike Lutter ist 21 Jahre älter.
Krämer ist Professor für Architekturgeschichte und Theorie an der LMU, und er ist Gründer und Leiter der Winckelmann-Akademie. Sie richtet sich an Menschen ab 50, die Kunstgeschichte studieren wollen. 15 Studenten hören mit Ulrike Lutter über Renaissance und Trecento. Der älteste ist über 90.
Er und Ulrike Lutter sind zwei von 55000 Seniorenstudenten in Deutschland. Die Zahlen steigen. Nicht nur an normalen Universitäten. Wissensdurst wird nicht alt.
Gelernt hat sie nach dem Abitur Dolmetscherin, Russisch und Englisch, 15 Jahre hat sie in den USA gelebt. Familie hat sie keine. Bis vor einem Jahr arbeitete Lutter noch in einer großen Galerie in der Münchner Innenstadt. Dann wurde ihr von heute auf morgen gekündigt.
„Die Situation war schwer für mich, ich stand plötzlich ohne Beschäftigung da“, sagt sie und: „Ich bin in ein tiefes Loch gefallen.“ Da erzählte ihre Freundin von der Winckelmann-Akademie. „Ich habe mich informiert und fand es großartig. Zum nächstmöglichen Zeitpunkt habe angefangen.“
Lutter schwärmt von den kleinen Gruppen, in denen sie lernen. Und sie ist begeistert von dem Wissensdurst in der Runde der zwischen 50 und fast 90-Jährigen.
Auch Steffen Krämer ist angetan von seinen reifen Studenten. „Sie sind höchst motiviert.“ Krämer kennt das Seniorenstudium länger. Er hat an der LMU Kunstgeschichte für Senioren gelehrt, bevor er 2011 die Winckelmann-Akademie gründete. Die schönen Dinge, und zu erfahren, was dahinter steckt, das interessiert die Älteren.
Doch durch die Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge ist es für Senioren schwieriger geworden, sich in den einzelnen Fächern zu Recht zu finden. Der Prüfungsdruck ist dort enorm, und den möchten Senioren in den meisten Fällen nicht.
„Als es noch den Magister gab, war es einfacher, die Fächer auszuprobieren“, sagt Krämer. „Außerdem können die staatlichen Institutionen kaum auf die Senioren reagieren, da die Unis so sehr mit den neuen Studiengängen beschäftigt sind. Das Seniorenstudium wurde an der LMU massiv zurückgefahren: Von 200 auf 80 Veranstaltungen.“
An der Winckelmann-Akademie verzichtet Krämer auf Prüfungen, am Ende des Studiums bekommen die Senioren ein Zertifikat. Auch brauchen die Senioren nicht unbedingt Abitur – im Gegensatz zu den herkömmlichen Unis wie der LMU. „Sie müssen Interesse mitbringen“, sagt Krämer. Er versucht, sich dem Lerntempo seiner Studenten anzupassen und alles genau zu erklären.
„In Seminaren an der LMU setze ich oft Dinge voraus, die ich den Senioren erkläre. Ich muss mich ihrer Lerndynamik anpassen.“ Was manchmal an Vorbildung fehlt, macht die Lebenserfahrung wett. „Das Allgemeinwissen ist groß, genauso wie Erfahrungsschatz“, sagt Krämer. Wenn wir ihr und mein Wissen in einen Topf werfen, diskutieren, dann entsteht eine kongeniale Stimmung.“
Das Studium an der Winckelmann-Akademie ist aber nicht ohne. Das Studienjahr ist gedrittelt, ein Trimester kostet 920 Euro, mit gut 10000 Euro ist man dabei, wenn man alle zehn Trimester belegt. Ulrike Lutter dachte nach ihrem zweiten: „Noch eins kann ich mir nicht leisten. Das bringt mich an meine finanziellen Grenzen.“ Aber dann, so erzählt sie, haben ihre Freundinnen sie ermuntert, weiter zu machen. „Ohne dich geht's nicht“ haben sie zu mir gesagt", erzählt Lutter. Sie meldet sich zum dritten an, und spart anderswo.
„Ich gönne es mir“, sagt sie, „Zum einen weil ich mehr lernen will, zum anderen, weil ich so tolle Freundschaften geschlossen habe. Das will ich nicht missen.“ Mit drei Freundinnen plant sie für den Oktober eine Reise zu den Kathedralen rund um Paris wie Chartres, Amiens oder Reims. „Von Samstag bis Donnerstag sind wir unterwegs, zu viert in einem Auto. Aufregend ist das“, sagt sie und lacht. Das Studium hat ihr neue Perspektiven und neue Anreize gegeben. Und es gib ihrem Leben Struktur: „Am Freitag müssen wir ja wieder da sein, da haben wir wieder unseren Studientag.“ Aber vorher wollen sie sich anschauen, was sie im vergangenen Trimester gelernt haben – und natürlich eine schöne Zeit haben. Informationen zur Winckelmann-Akademie: www. winckelmann-akademie.de, Telefon: 089 - 307 28 754, E-Mail: info@ winckelmann-akademie.de