Euro-Debatte: Schafft den National-Staat ab!
Der intellektuelle Wettstreit über die Zukunft Europas ist eröffnet. Zwei neue kluge Bücher bieten zehn provokante Thesen. Wir fassen Die Ideen zusammen.
Schluss jetzt! So geht es nicht weiter mit Europa. Europa muss sich weiterentwickeln. Und zwar radikal. Der Friedensnobelpreis ist dafür ein wichtiges Signal. Radikal heißt: Abschied vom Nationalstaat. Abschied von national denkenden Politikern. In ein paar Jahrzehnten wird man auf diese Monate zurückblicken als die entscheidenden in der Euro-Krise. Wie die Geschichte über uns urteilen wird? Alles ist offen. Wollen Sie wissen, wie es mit uns weitergehen muss? Dann lesen Sie diese Zeilen.
Sie stützen sich auf zwei jetzt erschienene, sehr kluge Bücher. Das eine heißt „Für Europa!”, ein Manifest von dem deutsch-französischen Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit und dem liberalen belgischen Ex-Premier Guy Verhofstadt. Das zweite Buch „Der Europäische Landbote” von Österreicher Robert Menasse, eine glühende Streitschrift für Europa.
Die AZ fasst zehn provokante Thesen aus den Werken zusammen:
1. Es braucht Vordenker, und nicht Stammtische. Wann wurde die Idee von Europa geboren? Das war kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Kontinent lag in Trümmern. Mit Deutschland wollte keiner was zu tun haben. Und jetzt sollte man mit dem alten Feind wirtschaftlich zusammenarbeiten? An den Stammtischen in ganz Europa stand die Meinung klar gegen mehr europäische Zusammenarbeit. Im gedemütigten Post-Nazideutschland stießen die Finanzhilfen der USA auf wenig Begeisterung. Doch die damaligen politischen Eliten hatten erkannt, dass sie der Stimme des Volkes hier nicht trauen durften. Robert Menasse schreibt: „Wären schon damals in der BRD demoskopisch erfasste Meinungen maßgeblich für Regierungsentscheidungen gewesen, die BRD wäre ein Agrarstaat geworden, möglicherweise Kartoffelexportweltmeister.”
Und so ist es jetzt wieder. Natürlich verunsichern Veränderungen die Menschen. Doch es geht jetzt nicht mehr ohne. Wir brauchen eine Lösung. Zurückdrehen lässt sich die EU nicht mehr. Sie beim Status Quo zu belassen, wäre eine ebenso große Katastrophe. Bleibt nur der Weg nach vorne. Hört man auf die Dobrindts und die Söders? Auf die Aiwangers und die Henkels? Auf die Tsipras und die Camerons? Die nur das sagen, was die breite Masse hören will?
Auch Cohn-Bendit und Verhofstadt betonen in ihrem Buch: In den Anfangszeiten der EU haben die Politiker die Zukunft Europas gegen die Mehrheit gedacht. Das ist nicht undemokratisch gemeint: Natürlich muss es eine Debatte darüber geben und natürlich müssen irgendwann die Völker Europas gefragt werden. Mit der Gefahr des Scheiterns. Aber das Nach-Vorne-Denken muss jetzt geleistet werden. Man darf Europa nicht dem Stammtisch überlassen – damals nicht und heute nicht.
2. Die EU ist Definitions-Sache. Die EU tut Dinge, die unsere Bundesregierung auch tut. Sie versucht, durch Gesetzgebung Rahmenbedingungen zu schaffen, dass alle Bürger gut leben können. Das macht sie mal gut, mal schlecht, wie jede Regierung. Nur ist die Wortwahl – auch in den Medien – oft so, dass bei den Bürgern Ängste geweckt werden. Was in Deutschland Gesetzgebung genannt wird, heißt in Europa „Regulierungswahn”. Wann hat sich zuletzt ein Preuße oder Hesse oder Franke über den „Regulierungswahn” durch Berlin beklagt?
3. Die EU-Kommission ist nicht das Problem. Unsinnig findet es Menasse, wenn eine stärkere „demokratische Legitimierung” der Kommission gefordert wird. Die Kommission besteht aus Beamten. Beamte werden nicht gewählt, nirgends, auch bei uns nicht. Wählt man etwa die Mitarbeiter der Staatskanzlei? Nein, man wählt diejenigen, die die Politik machen. Das sind in der EU die Regierungschefs der Mitgliedsstaaten. Diese Regierungschefs werden von nationalen Parlamenten gewählt, aber nicht von einer gesamteuropäischen Öffentlichkeit. Bundeskanzlerin Angela Merkel mag sich aufführen wie Bundeskanzlerin Angela Merkel aller Europäer – aber sie ist es nicht. Hier liegt das Demokratie-Problem der EU.
4. Die EU-Kommission ist offen, schlank und transparent. Wussten Sie das? „Die EU hat zur Verwaltung des ganzen Kontinents weniger Beamte zur Verfügung als die Stadt Wien allein”, schreibt Menasse. Und: Die Bürokratie ist billig. Die EU hat ein Budget in Höhe von einem Prozent des europäischen Bruttosozialprodukts. Und von diesem einen Prozent gehen nur sechs Prozent für die Verwaltung der Institutionen drauf.
5. Deutschland benutzt Europa für seine nationalen Interessen. Triumphierend hatte Volker Kauder es ausgerufen: „In Europa wird wieder Deutsch gesprochen!” Tatsächlich fragt man sich in letzter Zeit, ob die Bundeskanzlerin wirklich an die europäische Idee glaubt, oder Europa nur als Spielwiese sieht, um egoistische Interessen durchzudrücken. Nicht nur, dass Merkel wegen der NRW-Wahl wochenlang mit ihrer Zusage für das Griechenland-Rettungspaket gezögert hatte, während sie nur zwei Jahre vorher ohne mit der Wimper zu zucken Milliarden in deutsche Zockerbanken hineinbutterte. Nein: Sie verknüpfte die Hilfe für Griechenland auch noch mit deutschen Rüstungsgeschäften, wie Cohn-Bendit ihr vorwirft. Ein am Boden liegendes Land muss teure deutsche Rüstungsgüter kaufen, damit es überhaupt Hilfe bekommt und Deutschland sich als Exportmacht feiern kann.
6. Deutschland steht in der Schuld. Menasse führt in seinem Buch ein interessantes Faktum in Erinnerung: Im Jahr 1953 bat Nachkriegs-Deutschland auf einer internationalen Konferenz in London um Schuldenerlass. Die Reparationszahlungen nach dem Zweiten Weltkrieg waren zu hoch. Die Nationen beschlossen, Deutschland einen Schuldenschnitt zu gewähren. Die Initiative kam von: Griechenland! Noch heute schuldet Deutschland den Griechen 3,5 Milliarden Euro, ohne Zinsen.
7. Die Nationalpolitiker sind das Problem. Die EU hatte zum Ziel, Nationalismus zu überwinden und Frieden zu schaffen. Dazu mussten zunächst nationale Regierungen zusammenkommen und das miteinander beschließen. Die Institution, in der das geschieht, ist der Europäische Rat. Hier treffen sich die Staatschefs. Doch auf halbem Weg ist die europäische Einigung steckengeblieben: Statt, wie es mal gedacht war, im Rat die supra-nationalen Institutionen wie das EU-Parlament zu stärken und sich selbst quasi abzuschaffen, ist der Rat jetzt der große Blockierer. Jeder drückt durch, was ihm daheim passt. Cameron will Extrawürste für den Finanzplatz London. Merkel diktiert den Sparkurs. Im Rat sitzen Regierungschefs, die daheim wiedergewählt werden wollen. Deshalb werden sie niemals wirklich europäisch denken und handeln.
8. Wir brauchen eine europäische Regierung. „Nur wer gewählt ist, besitzt die Legitimtität Europas”, schreiben Cohn-Bendit und Verhofstadt. Deshalb braucht es eine echte europäische Regierung, die von allen gewählt wird, und ein vollwertiges, mit allen Rechten ausgestattetes EU-Parlament, und eine europäische Staatsbürgerschaft. Doch damit das funktioniert, muss man erst eins abschaffen: den Nationalstaat.
8. Den Nationalstaat braucht es nicht mehr. Dies sei die größte Lüge, die die Politiker den Bürgern auftischen, sagen Cohn-Bendit und Verhofstadt: Dass die einzelnen Staaten das Fundament der EU seien. Das ist Quatsch: „Der Kern von Europa besteht nicht aus Staaten. Der Kern von Europa besteht aus seinen Bürgern.” Nationen wurden erfunden, betont Menasse, um aus einem Fleckerlteppich von Fürstentümern und Kleinstaaten, die einander oft blutig bekämpften, ein friedliches Miteinander zu schaffen. Jetzt ist es an der Zeit, den nächsten Schritt zu gehen. Hier geht es auch um unser Überleben in der Welt, die auf Großmächte aufgeteilt ist: China, Indien, Brasilien, Russland, die USA. Wenn es so weitergeht, werde „in nur 25 Jahren kein einziges europäisches Land mehr zu den Mächtigen zählen, die das Weltgeschehen bestimmen”, so Cohn-Bendit und Verhofstadt.
9. Für ein Europa der Regionen. Keine Angst vor einem Abschied vom Nationalstaat. Was genau lieben Sie so an Deutschland? Was lässt Sie festhalten an dem Konstrukt der Nation? Das gute Brot? Die sauberen Straßen? Die pünktlichen Züge? Sind das Dinge, mit denen Sie ein Heimatgefühl verbinden? Dieses Heimatgefühl will Ihnen niemand nehmen. Das ist wichtig. Aber seien Sie ehrlich: Fühlen Sie sich als Deutscher? Oder nicht erst als Münchner, Oberbayer, Franke, Oberpfälzer? „Europa ist in Wahrheit ein Europa der Regionen”, schreibt Menasse. „Die Aufgabe europäischer Politik wäre es, Europa politisch zu dem zu machen, was es faktisch ist.”
Fazit. Ja, die Zeiten sind unsicher, viele haben Angst. Aber die Krise ist auch eine Chance. Sie erhöht den Druck, dass sich jetzt etwas ändern muss. Nochmal Menasse: „Entweder wird Europa einmal mehr, aber diesmal friedlich, die Avantgarde der Welt. Oder Europa wird beweisen, dass bleibende Lehren aus der Geschichte nicht gezogen werden können und es keinen Weg gibt, um schöne Utopien ins Recht der Wirklichkeit zu setzen. Und wenn, in diesem Fall, dann die politischen Untergangster wieder vor rauchenden Trümmern stehen und betroffen stammeln: ,Dies soll nie wieder geschehen können!’, dann wird Hohngelächter aus den langen dunklen Korridoren der Geschichte dröhnen.”
Daniel Cohn-Bendit, Guy Verhofstadt: „Für Europa!” (Hanser, 141 Seiten, 8 Euro); Robert Menasse: „Der Europäische Landbote” (Zsolnay, 111 Seiten, 12.50 Euro)