Die berufliche Bildung schwächelt

Eine neue Studie wirft die Frage auf, wo in Zukunft genügend Lehrlinge herkommen sollen
von  Werner Herpell

Die Hochschulen melden Rekorde, die berufliche Bildung schwächelt

Der Vizekanzler sah sich zu warnenden Worten genötigt. „Es gibt eine Fehlwahrnehmung, dass man nur mit Abitur und Studium ein anständiger Mensch in Deutschland ist. Das müssen wir ändern“, sagte Bundeswirtschaftsminister und SPD-Chef Sigmar Gabriel Anfang September in Düsseldorf. Aktuelle Daten zu Studenten und Lehrlingen zeigen, dass der Trend schwer zu brechen sein dürfte: Demnach geht die Entwicklung zunehmend weg von der betrieblichen Ausbildung und hin zum Hochschulstudium.

Eine neue Studie malt nun aus, wohin das in den nächsten Jahren führen kann. Fast 2,7 Millionen Studenten an deutschen Hochschulen, davon 500 000 Erstsemester – die Beliebtheit der akademischen Bildung lag im Wintersemester 2014/15 auf Rekordniveau. Die in Kürze erwarteten offiziellen Studierenden-Zahlen zum gerade beginnenden Wintersemester 2015/16 dürften erneut sehr hoch sein.

Dagegen sinkt die Zahl neuer Ausbildungsverträge stetig – 2014 laut Berufsbildungsbericht der Regierung um 1,4 Prozent auf 522 000. Der Trend „Volle Hörsäle – leere Werkbänke“ wird anhalten, ergibt sich aus dem Szenario der Bertelsmann-Stiftung zur nachschulischen Bildung. Falls sich der Run auf die Hochschulen fortsetzt, müssen die Unternehmen in 15 Jahren mit rund 80 000 Lehrlingen weniger auskommen. Noch größer würde die Lücke durch den demografischen Wandel.

So sei 2030 nur noch mit rund 700 000 Schulabgängern zu rechnen – 2011 waren es noch 880 000. Weil darunter immer mehr Abiturienten sind, die an die Unis drängen, werde der Rückgang dort weniger spürbar sein: Die Studie geht davon aus, dass die Erstsemesterzahlen nur geringfügig absinken. Der Trend zum Studium statt zur Lehre verschärfe den Fachkräftemangel in Industrie und Handwerk, sagt seit längerem der frühere SPD-Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin. Der Münchner Philosophieprofessor warnt vor dem „Akademisierungswahn“ und attackiert die Bildungspolitik. „Man darf den Leuten nicht den Kopf verdrehen mit völlig absurden Botschaften wie „Wer studiert, verdient im Lauf seines Lebens eine Million Euro mehr“, sagt Nida-Rümelin. „Weil dann junge Menschen meinen, sie bräuchten nur ein Studium aufzunehmen und hätten schon eine Art Lottogewinn.“

Er fügt an: „Es ist einfach ein Irrtum zu meinen, dass der Hauptbedarf am Arbeitsmarkt im Bereich der akademisch Gebildeten liegt.“ In Fächern wie Jura etwa finde „ein Drittel der Absolventen keine adäquate Beschäftigung“, auch Biologen oder Geografen hätten große Probleme bei der Jobsuche. Auf der anderen Seite hätten „Meister und Techniker das niedrigste Risiko überhaupt, arbeitslos zu werden“. Völlig unklar ist derzeit noch, wie viele Flüchtlinge in Deutschland ein Studium aufnehmen – und wie viele in eine Lehre vermittelt werden können. Laut Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie (FiBS) sind 10 bis 15 Prozent der Migranten studienberechtigt. Die Friedrich-Ebert-Stiftung geht von bis zu 50 000 potenziellen Studenten unter den 2015 neu ins Land kommenden Asylsuchenden aus.

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.