Die andere Republik

MÜNCHEN - Die Menschen sind weiter, als die Politik zur Kenntnis nimmt - Arno Makowsky, der AZ-Chefredakteur, über den Familienreport 2010
Es ist eine Revolution im Gange. Sie findet nicht auf der Straße statt, sondern in den Kinderzimmern, Küchen und Großraumbüros. Und sie hat größere Auswirkungen auf unsere Gesellschaft als jeder politische Umsturz. Der „Familienreport 2010“, den Ministerin Kristina Schröder gestern in Berlin vorstellte, zeigt ein anderes Deutschland, als es in den Köpfen der meisten Bürger existiert. Es ist ein Deutschland, in dem immer öfter Frauen für Mann und Kinder sorgen, eine Republik, in der „Vätermonate“ so beliebt sind wie nie, ein Land aber auch, in dem ohne staatliche Hilfe viele Menschen in die Armut abrutschen würden.
Trotz aller Probleme ist die im Report skizzierte Lage keineswegs hoffnungslos. Sie zeigt nur, dass unsere Arbeits- und Lebensstrukturen nicht mehr zur Alltagsrealität passen. So wollen beispielsweise immer mehr Männer eine Auszeit vom Job nehmen, um sich um die Kinder zu kümmern, doch ihre Frauen können den finanziellen Verlust nicht ausgleichen. Und viele in Vollzeit Beschäftigte würden gerne weniger arbeiten, was aber meistens nicht möglich ist.
Kurz: Die Menschen in diesem Land sind viel weiter, als die Politik zur Kenntnis nimmt. Gerade musste die Familienministerin ihre Pläne aufgeben, zwei weitere Vätermonate einzuführen. So helfen sich die Familien eben selbst: Sie geben ihre Kinder in Krippen und spannen zusätzlich die Großeltern zur Betreuung ein. Der Report zeichnet das Bild einer modernen Gesellschaft, der es an Unterstützung durch die Politik mangelt.