AZ-Serie: Hartz IV - Was läuft schief? - „Wir überheben uns“

Das Land steht vor heftigen Verteilungskämpfen, sagt die Expertin und: Die Angst der Mittelschicht vor dem sozialen Absturz verhindert eine Neuausrichtung der Politik.
von  Abendzeitung
Soziologin Waltraut Peter ist Armutsforscherin am IW Köln.
Soziologin Waltraut Peter ist Armutsforscherin am IW Köln. © NDR/Michael Petersohn

KÖLN - Das Land steht vor heftigen Verteilungskämpfen, sagt die Expertin und: Die Angst der Mittelschicht vor dem sozialen Absturz verhindert eine Neuausrichtung der Politik.

Die Gefahr ist real. Der Sozialstaat droht, sich zu überheben. Im Jahr 1980 standen 26,4 Millionen Erwerbstätigen 13,4 Millionen Sozialleistungsempfänger gegenüber. Im Jahr 2007 hat sich das Verhältnis deutlich verschoben: Auf 33,5 Millionen Menschen in Lohn und Brot kamen 26,4 Millionen Sozialleistungsempfänger.

In dem Jahr boomte der Arbeitmarkt noch. Trotzdem lag der Anteil aller Leistungsempfänger an der Bevölkerung bei 37,8 Prozent, die Erwerbstätigenquote bei 40,7 Prozent. Der Abstand zwischen beiden Quoten betrug also nur noch 2,9 Prozentpunkte. Zu den Sozialleistungen werden dabei, zum einen, die einkommensgeprüften Hilfen (Arbeitslosengeld II, Bafög, Elterngeld, Grundsicherung im Alter, Sozialhilfe und Wohngeld) gezählt, zum anderen die Sozialversicherungsleistungen (Renten und Pensionen sowie Arbeitslosen- und Kurzarbeitergeld).

Der Sozialstaat überhebt sich mit dem schrumpfenden Abstand aber nicht nur finanziell, sondern auch in Bezug auf das Wertegefüge. Je mehr Leistungsempfänger die Leistungsträger finanzieren müssen, desto härter werden die Verteilungskämpfe. Zugleich werden sie komplizierter. Denn je wechselhafter die Lebenslagen, desto mehr Wähler tragen zwei Seelen in ihrer Brust, die des Steuerzahlers und die des Empfängers von steuerfinanzierten Leistungen. Die eine Seele wehrt sich gegen Steuererhöhungen, die andere gegen Sozialleistungskürzungen.

Dazu kommt die wachsende Angst der Mittelschichten, in Hartz IV „abzustürzen“. Beispielhaft für die gespaltene Seelenlage ist, dass fast drei Viertel der Bevölkerung eine Erhöhung der Hartz-IV-Sätze befürworten, sich aber gleichzeitig dagegen wehren, diese aus ihrem Erwerbseinkommen zu finanzieren. Noch komplizierter wird die Lage dadurch, dass das für eine Erhöhung der Regelleistungen notwendige Steueraufkommen für den Ausbau der Kinderbetreuung und die Verbesserung der Erwerbsmöglichkeiten von Müttern fehlt. Dass wiederum heißt aber auch, dass die Steuerzahler weiterhin den Lebensunterhalt von 40 Prozent aller Alleinerziehenden und ihrer Kinder erwirtschaften müssen.

Auf die Abstiegsängste in der Mitte der Gesellschaft hat die Politik mit dem Aufspannens eines Schutzschirms reagiert. Dazu gehören der Ausbau des Kinderzuschlags, die Erhöhung des Bafög und des Wohngelds, die den „Absturz“ der Mittel- in die Unterschicht verhindern sollen. Man mag es Ironie der Geschichte nennen, dass dieser Schutzschirm just an die Stelle der abgeschafften Arbeitslosenhilfe tritt, die bis 2005 Langzeitarbeitslose vor dem Gang zum Sozialamt bewahrt hat. In jedem Fall geht es faktisch längst nicht mehr nur um staatliche Fürsorge für Einkommensarme.

Und zu allem Überfluss altert die Gesellschaft in rasantem Tempo. Auch hier ist offensichtlich, dass eine Fortschreibung der bestehenden gesetzlichen Rentenversicherung – Beiträge erhöhen oder die Rente senken – nicht reicht, um die Herausforderung zu meistern.

Der Sozialstaat wie wir ihn kennen ist ohne eine neue Balance von Eigen- und staatlicher Verantwortung und ohne ein Umdenken bei Wählern und Politikern nicht nachhaltig zu sichern.

Waltraut Peter

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