AZ-Serie: Hartz IV - Was läuft schief? - „Widerlich und verlogen!“
Der Münchner Sozialreferent empört sich über eine Kampagne, in der „um ihrenArbeitsplatz fürchtende Menschen gegen dasSozialsystem aufgebracht werden sollen“
Ausgerechnet das soziale Netz, das die Arbeitnehmer auffängt, wenn das Wirtschaftssystem sie ausspuckt, soll verantwortlich sein für die Ungerechtigkeiten in unserer Gesellschaft!
Diese aus Wahlkampfgründen angezettelte Diskussion, die Niedriglöhner gegen Arbeitslose, um ihre Existenz kämpfende und um ihren Arbeitsplatz fürchtende Menschen gegen das gesamte Sozialsystem aufbringen will, ist widerlich.
Das Ziel dieser Kampagne ist klar: Zum einen soll jede Erhöhung der Leistungen verhindert werden – der Münchner Stadtrat fordert seit langem eine Erhöhung von jetzt 359 auf 420 Euro Regelleistung für einen Alleinstehenden. Zum anderen soll von dem eigentlichen Skandal unseres Wirtschaftssystems abgelenkt werden: Vom wachsenden Bereich der Niedriglöhne, von den fehlenden Arbeitsplätzen, die Arbeitssuchende zu Bittstellern machen. Und von fehlenden Unterstützungs- und Fördermaßnahmen unseres Schulsystems für arme Kinder.
Viele Familien mit Kindern verdienen nicht wesentlich mehr als das, was gesetzlich als Grundsicherungsbedarf festgelegt ist. Das ist ein weiterer Teil des durch das jüngste Getöse überdeckten Skandals: Der Lastenausgleich zwischen denen, die Kinder erziehen, und denen, die ohne Kinder leben, funktioniert nicht mehr. Alle wollen die Rentenzahler von morgen, weniger als die Hälfte aber will die Freuden (und finanziellen Lasten) der Kindererziehung.
Verlogen oder von Unkenntnis geprägt ist die Behauptung: Wer nicht arbeitet, bekommt mehr als der Arbeitende.
Fakt ist, dass jeder Arbeitende in denselben Familienverhältnissen mehr in der Tasche hat, als der vergleichbare Arbeitslose. Verdient jemand weniger als den gesetzlich fixierten Bedarf, hat er Anspruch auf Zuzahlung.
Und da das Sozialgesetzbuch dem Arbeitenden von seinem Einkommen einen festen Prozentsatz belässt und nicht auf die Hilfe anrechnet, hat dieser in jedem Fall mehr Geld als der Arbeitslose. Das kann bis zu 310 Euro pro Monat ausmachen – Kritiker sagen: Zu wenig, um Anreiz zur Arbeit zu schaffen.
Wie viele Studien braucht es noch, bis endlich öffentlich akzeptiert wird, dass die allermeisten Arbeitslosen händeringend Arbeit suchen? In Datenabgleichen und Statistiken ergibt sich immer dasselbe Bild: Deutlich weniger als fünf Prozent der Leistungsbezieher betrügen! Die Finanzämter wären mit so einer niedrigen Quote wohl glücklich.
Zumindest für arme Kinder müssen die Leistungen angehoben werden. Denn auch sie haben ein Recht auf Bildung. Die Kosten hierfür sind bislang nicht berücksichtigt worden, so die Rüge des Bundesverfassungsgerichts.
Natürlich weiß ich, dass der Staat hoch verschuldet ist. Aber dafür sind nicht die verantwortlich, die Leistungen wegen ihrer Arbeitslosigkeit beziehen. Mit einer geringeren Steuersenkung als geplant oder weniger Privilegien für kleinste Gruppen der Gesellschaft ist ein menschenwürdiges Existenzminimum für alle Bedürftigen leicht bezahlbar.
In seinem Urteil macht das Bundesverfassungsgericht klar, dass jeder Mensch ein Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum hat. Das heißt: Auch die Armen haben Anspruch auf Essen, Kleidung, Wohnung, Bildung und ein Minimum an gesellschaftlicher Teilhabe. Sie dürfen dafür nicht auf mildtätige Gaben verwiesen werden. Das Urteil verbietet eine Rückkehr zum Almosenstaat.
Die Richter sichern den Armen die Würde - das ist großartig.
Frieder Graffe