AZ-Interview: Brauchen wir keine Lohnerhöhung mehr?

IG-Metall-Boss Berthold Huber ist Chef der größten Industriegewerkschaft der Welt. Er will lieber Beschäftigungssicherung als mehr Geld. Die Kollegen in Bayern stimmen ihm zu
von  Abendzeitung
Mann der leisen Töne mit einem großen Auftritt: Berthold Huber (59) vertritt mehr als 2,3 Millionen Metallarbeiter in Deutschland.
Mann der leisen Töne mit einem großen Auftritt: Berthold Huber (59) vertritt mehr als 2,3 Millionen Metallarbeiter in Deutschland. © AP

IG-Metall-Boss Berthold Huber ist Chef der größten Industriegewerkschaft der Welt. Er will lieber Beschäftigungssicherung als mehr Geld. Die Kollegen in Bayern stimmen ihm zu

Lohnzurückhaltung, um Arbeitsplätze zu sichern? Ohne den DGB! Wer „die Finanzmarktkrise missbraucht, um niedrige Lohnabschlüsse zu erreichen“, wettert der bayerische DGB-Vorsitzende Fritz Schösser, handle „unverantwortlich“. Das war im Oktober 2008. Zwölf Monate später ist bei den Gewerkschaftern nichts mehr, wie es einmal war. Der IG-Metall-Bundesvorsitzende Berthold Huber will gar keine Gehaltserhöhung mehr.

„Ich sehe im Moment nicht, dass wir große Entgeltforderungen stellen werden“, sagt Huber für die nächste Tarifrunde. Die Vermeidung von betriebsbedingten Kündigungen und die Übernahme von Auszubildenden gehe vor. Auch DGB-Landeschef Schösser und der bayerische IG-Metall-Chef Werner Neugebauer vermeiden Prozentforderungen.

Die Gewerkschafter erfinden sich neu. Berthold Huber (59) ist Chef der größten Industriegewerkschaft der Welt, er vertritt mehr als 2,3 Millionen Mitglieder. Er hat Abweichungen vom Flächentarifvertrag, einst eine heilige Kuh für die Gewerkschaften, hoffähig gemacht. Huber muss für die Gewerkschafter retten, was zu retten ist – ein schwieriger Job: Gegen sture Arbeitgeber-Funktionäre konnten die Arbeitnehmer-Vertreter kämpfen. Gegen die Flaute sind sie wehrlos. „Mehr als die Hälfte der Metall- und Elektrofirmen in Bayern befinden sich in Kurzarbeit“, stellt Fritz Schösser fest. „Beschäftigungssicherung ist das A und O. Sie kostet die Betriebe im Zweifel mehr als ein oder zwei Lohnprozente.“

Der ärgste Widersacher der Gewerkschaften ist die Arbeitsmarktstatistik. Die Zahl der Menschen ohne Job in Bayern ist von 237000 im Oktober 2008 auf gut 321000 im September 2009 gewachsen. Und 269065 Beschäftigte haben ihren Job nur noch, weil die Arbeitsagentur Kurzarbeitergeld zahlt. Innerhalb eines Jahres strichen Firmen der bayerischen Metall- und Elektroindustrie 28000 Stellen. Aktuell gehen in der Branche pro Monat 3000 bis 4000 Jobs verloren.

Protestmärsche helfen gegen diesen Trend nicht – eher unkonventionelle Bündnisse. 1996 schlossen Gewerkschaften, Arbeitgeber und die bayerische Staatsregierung einen Beschäftigungspakt. Jetzt schwebt Fritz Schösser ein Bündnis vor, das noch weitergeht: „Wir brauchen ein Gesamtkonzept, das von der Arbeitsverwaltung, der Wissenschaft, den Kommunen, der Staatsregierung, den Gewerkschaften und den Arbeitgebern getragen wird.“

Allerdings sind die öffentlichen Kassen leer, und Bertram Brossardt, der Geschäftsführer der bayerischen Arbeitgeber, hat auf nichts weniger Lust als auf Gespräche mit Gewerkschaftern. Also müssen die Arbeitnehmervertreter mit dem arbeiten, was ihnen zur Verfügung steht: mit Tarifverträgen, die Firmen mehr oder minder großzügige Ausnahmen erlauben, wenn nur Arbeitsplätze gesichert werden.

Ein heikles Vorhaben. Wer heute noch wirklich selbstbewusste Gewerkschafter erleben will, muss sich an Frank Bsirske halten, den Verdi-Chef. Der bezeichnet Lohnverzicht als „falschen Weg“ – noch. Im öffentlichen Dienst, wo betriebsbedingte Kündigungen die Ausnahme sind, mag Verdi Zuwächse durchsetzen – im Handel ist daran kaum zu denken. Und bei der Post muss die Gewerkschaft froh sein, wenn sie die Zumutungen des Arbeitgebers abwenden kann (siehe links).

Susanne Stephan

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.