830 000 Kilometer Stau

Der ADAC zieht Stau-Bilanz. Bayern ist wieder einmal ganz vorne mit dabei. Besonders im Oktober ging auf vielen Fernstraßen gar nichts mehr.
von  Susanne Stephan
Thilo Jourdan: Der 48-jährige studierte Elektrotechniker leitet die Straßenverkehrstechnik von Siemens Deutschland.
Thilo Jourdan: Der 48-jährige studierte Elektrotechniker leitet die Straßenverkehrstechnik von Siemens Deutschland.

 

MÜNCHEN Ärger, Unfallgefahr und Zeitverlust: Auf den deutschen Autobahnen gab es heuer 415000 Staus, berichtet der ADAC. Die Verkehrsdatenbank listet Blechschlangen mit insgesamt 830 000 Kilometern Länge auf, ein Rekord.

Im Vorjahr betrug die Gesamtlänge 595000 Kilometer. Schuld an der Erhöhung ist allerdings nicht eine Zunahme des Verkehrs, sondern eine deutlich verbesserte Datenerfassung. Wie in den Vorjahren entfällt gut die Hälfte aller Staumeldungen auf die Bundesländer Nordrhein-Westfalen (29 Prozent), Bayern (15 Prozent) und Baden-Württemberg (elf Prozent). Ein ähnliches Bild ergibt sich bei den Staukilometern: Nordrhein-Westfalen liegt mit einem Anteil von 27 Prozent vor Bayern (18 Prozent) und Baden-Württemberg (13 Prozent). Zum Vergleich: Auf die fünf ostdeutschen Bundesländer entfielen lediglich sieben Prozent der Staumeldungen und -kilometer.

Staureichster Monat war mit Abstand der Oktober 2013, als der ADAC rund 90 000 Kilometer Stau registrierte – doppelt so viel wie im Monat Februar (47 000 Kilometer). Der ADAC nutzt seine Staubilanz, um alte Forderungen zu wiederholen: Das Autobahnnetz müsse ausgebaut werden, und zwar zügiger, als bisher von der Politik geplant.

Die öffentliche Hand solle sich dies nicht nur wie bisher fünf Milliarden Euro pro Jahr, sondern 7,5 Milliarden Euro kosten lassen. Immerhin seien 2 200 Kilometern Autobahn im Bedarfsplan für 2015 als vordringlich ausgewiesen – aber nicht einmal die Hälfte davon werde voraussichtlich auch wirklich gebaut. Laut einer ADAC Studie zur Verkehrsqualität auf deutschen Autobahnen waren im Jahr 2010 rund 1 600 Kilometer Autobahn regelmäßig überlastet, bis zum Jahr 2025 wird ein Anstieg auf rund 2 000 Kilometer vorhergesagt.

Mit Sensoren und Kameras gegen den Stillstand

Thilo Jourdan, der Leiter der Straßenverkehrstechnik von Siemens Deutschland, will Engpässe vermeiden

 

AZ: Wird es mit moderner Verkehrsleittechnik irgendwann möglich sein, Staus zu vermeiden?

THILO JOURDAN: Die vollkommene Staufreiheit werden wir schon allein deswegen nicht erreichen, weil die Zahl der Verkehrsteilnehmer weiter wächst. Aber wir können den Verkehrsfluss optimieren.

Was heißt das konkret?

Nehmen Sie als Beispiel die Parkplatzsituation für Lkw auf den Autobahnen. Uns fehlen mehrere tausend Stellplätze auf den deutschen Raststätten, mit der Folge, dass Lkw-Fahrer oft nur schwer auf ihre Ruhezeiten kommen. Zum Teil fahren sie auf Rastplätze, finden dort keinen Platz für ihr Fahrzeug und weichen notgedrungen zum Parken bis auf die angrenzende Autobahn-Standspur aus. Wir werden jetzt 22 Raststätten und Parkplätze entlang der A9 mit Sensoren ausrüsten, die registrieren, wenn ein Lkw auf den Parkplatz einfährt. Sie erkennen auch, wie lang der Laster ist. Diese Daten stellt unser System in Echtzeit dem Bundesverkehrsministerium zur Verfügung. Dort können unabhängige Anbieter die Daten abrufen und sie etwa für Smart-phone-Apps verwenden. So werden Lkw-Fahrer darüber informiert, ob es sich für sie lohnt, einen Parkplatz anzufahren. In einem weiteren Schritt könnte mit den Daten ein Buchungssystem für Lkw-Parkplätze eingeführt werden.

Autofahrer plagen besonders die samstäglichen Staus auf den Reiserouten in Nord-Süd-Richtung. Lässt sich da gar nichts machen?

Zum Teil schon. Beispielsweise erkennen unsere Sensoren auf der A99, ob der Standstreifen frei ist oder durch ein liegengebliebenes Fahrzeug blockiert wird. Ist die Standspur frei, kann sie bei dichtem Verkehr als zusätzliche Fahrspur freigegeben werden.

Mehr Menschen als früher interessieren sich für Carsharing. Könnte Ihre Verkehrstechnik, kombiniert mit Leihauto-Systemen, die Städte noch weiter entlasten?

Das kommt auf die Mentalität der Verkehrsteilnehmer an. Und da spielt der Leidensdruck eine große Rolle. In Israel beispielsweise ermöglicht unsere Technik ein Mautsystem für eine eigene Spur auf der Autobahn von Jerusalem nach Tel Aviv. Auf dieser Spur wird eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 70 Stundenkilometer garantiert. Drängen zu viele Autos auf die Bezahlspur, steigt die Maut – so wird der Verkehrsfluss reguliert. Fahrgemeinschaften mit drei oder mehr Teilnehmern können von der Maut befreit werden. Das wird gut angenommen, allerdings auch deshalb, weil auf den anderen Fahrspuren zu Spitzenzeiten gar nichts vorangeht.

Wenn Sie gerade von Israel sprechen: Dort nutzt praktisch jeder Autofahrer Waze, ein soziales Netzwerk, das die Daten der Pkw-Fahrer für exakte Stauberichte verwendet. Ist die Auswertung von Handydaten oder von Daten, die die Bordelektronik der Pkw an die Pkw-Hersteller übermittelt, nicht die Verkehrsleittechnik der Zukunft, anders als teure Bodenschleifen und Kameras entlang der Autobahnen?

Straßensicherheit ist eine hoheitliche Aufgabe. Da reicht es nicht, die Handy- oder GPS-Daten einer begrenzten Nutzergruppe auszuwerten. Bisherige Navigationssysteme kranken außerdem daran, dass sie die Autofahrer zwar von Staus wegleiten, es sich dann aber abseits der Autobahnen staut. Deswegen brauchen wir weiterhin übergeordnete Leitsysteme. Interview: sun

 

 

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