Zum 100. Geburtstag - Biograf über Otfried Preußler: "Ungeheuer reichhaltige Archive"

Der kleine Wassermann, der in einem Schilfhaus in einem Weiher wohnt. Die kleine Hexe, die es mit den alten Hexen aufnimmt. Der Mühlen-Knappe Krabat, der mit der Schwarzen Magie zu tun bekommt. Und natürlich der Räuber Hotzenplotz mit seinem Kasperltheater-Personal. Die Bücher von Otfried Preußler (1923 - 2013) haben Generationen von Lesern geprägt. Tilman Spreckelsen hat nun zum 100. Geburtstag des als Kinder- und Jugendbuchautor berühmt gewordenen Schulrektors die erste umfassende Biografie vorgelegt.
AZ: Herr Spreckelsen, erinnern Sie sich an Ihre erste Begegnung mit einem Preußler-Stoff?
TILMAN SPRECKELSEN: Oh ja, ich war etwa fünf oder sechs Jahre alt, da ging meine Mutter mit mir in eine Buchhandlung, da gab es ein Hörspiel von der "Kleinen Hexe". Das hat sie mir gekauft, die Platte habe ich rauf und runter gehört. Und ich habe sie heute noch.
Es geht, wie der Untertitel Ihres Buches schon sagt, bei Preußler um Geschichten. Die prägten ihn früh. Wie kam das?
Das kam von zwei Seiten. Das war einmal sein Vater, der war in Reichenberg, wo Preußler geboren wurde und aufwuchs, Heimatforscher und Lehrer. Er nahm den kleinen Jungen gerne in das Heimatmuseum mit, das er betreute, und erzählte von den Exponaten. Er nahm ihn aber auch mit in die Umgebung von Reichenberg, brachte ihn mit Leuten zusammen, die Geschichten erzählten, Sagen, historische Anekdoten. Da war der kleine Otfried Preußler, damals noch Otfried Syrowatka, oft dabei und hörte zu. Die andere Seite ist die Großmutter väterlicherseits, Dora. Die muss ihm und seinem Bruder Wolfhart sehr viele Geschichten erzählt haben, und zwar mehr oder weniger aus dem Stegreif, und sie fingierte in ihrer Bescheidenheit immer, dass die Geschichten gar nicht von ihr seien, sondern aus einem alten Buch stammten.
Preußler hat diese Sagenstoffe dann später hergenommen und aus ihnen seine eigenen Geschichten gemacht.
Es gibt zwei Phasen in seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Die erste ist die, wo er Stoffe wie die "Schildbürger" bearbeitet. Da hat er die Vorlage und erzählt sie frei nach. Oder beim "Kleinen Wassermann", da übernimmt er die böhmischen Sagen von den Wassermännern und transformiert sie in die neue oberbayerische Heimat. Später entwickelt er permanent Pläne, welche Stoffe er noch bearbeiten könnte, Reinecke Fuchs oder Till Eulenspiegel.
Und die zweite Phase?
Beim "Krabat" liegen die Dinge ganz anders. Da hat er die Vorlage, aber er unterschätzt vollkommen, wie ihn dieser Stoff in Bann schlägt, wie er mit ihm ringt, er wird dann geradezu krank überm Schreiben, weil er immer das Gefühl hat, er kann den Stoff nicht richtig fassen. Und aus lauter Verzweiflung darüber setzt er sich dann hin und schreibt mal eben den "Räuber Hotzenplotz"...
... seine populärste Figur. Wie ging's mit dem "Krabat" weiter?
Die Vorlage erzählt von einem guten Zauberer Krabat, der in die Schwarze Schule in der Mühle kommt und erlöst wird durch seine Mutter. Dann erlebt Krabat als guter Zauberer viele Abenteuer in der Lausitz und wird am Ende in Gnaden in den Himmel aufgenommen. Und am Anfang erzählt Preußler das auch, merkt aber bald, er kommt damit nicht klar. Und dann kondensiert er den Stoff unglaublich über elf Jahre hinweg.
Was ist nun anders?
Er packt die ganze Handlung in die drei Jahre, die Krabat in der Mühle verbringt. Er wird viel konkreter, was das Müllerhandwerk angeht. Und am Ende - und das ist der entscheidende Unterschied - verlässt Krabat die Mühle und kann nicht mehr zaubern. Das erinnert an andere Stellen in Preußlers Werk, an denen er die Magie abschafft: Der Zauberer Petrosilius Zwackelmann im "Räuber Hotzenplotz" büßt schon im ersten Band seine Macht ein. Im "Krabat" bricht eine stärkere Macht, die Liebe der Kantorka, die Schwarze Magie. Und in der "Kleinen Hexe" haben wir am Ende einen großen Scheiterhaufen mit lauter Hexenbesen und Zauberbüchern.
Wir haben noch nicht über die Zäsur gesprochen, die der Aufenthalt im russischen Kriegsgefangenenlager Jelabuga darstellt. Preußler wäre dort fast gestorben.
Er ist tatsächlich abgemagert auf 42 Kilogramm. Er hat sich dann mit letzter Kraft ins Lazarett geschleppt, und dort hat eine jüdische Ärztin, die ihren Sohn im Kampf gegen die Deutschen verloren hat, es sich zur Aufgabe gemacht, diesen deutschen Offizier und viele seiner Kameraden zu retten. Das hat Preußler so tief beeindruckt, dass er diese Begegnung nicht nur als Teil eines Konvoluts aufgeschrieben hat, sondern er hat sie auch, anders als praktisch den ganzen Rest, veröffentlicht.
Anfangs war Preußler ja, wie so viele seiner Generation, vom Krieg begeistert.
Er schreibt, er konnte gar nicht früh genug in den Krieg ziehen. Mit dem Zusammenbruch der Front, an der er kämpft, erlebt er aber ein persönliches Trauma, erfährt Ohnmacht und kommt auch ins Nachdenken darüber, was in den Jahren vor der Gefangenschaft war, was für eine Ideologie geherrscht hat. Im Lager schreibt er unter anderem ein Theaterstück. Darin verhandelt er unter dem Deckmäntelchen der Beschreibung einer Himalaya-Expedition die Frage: Was macht einen guten Anführer aus? Wie weit darf er gehen, welche Verantwortung hat er gegenüber denen, die er führt? Und wann muss man ihm vielleicht den Gehorsam auch verweigern?
Preußler wurde nach dem Verlust der Heimat später zum Versöhner.
Er kommt 1949 mittellos in die Bundesrepublik. Er ist unglaublich fleißig, schreibt für Zeitungen, ein Kind wird geboren, er wird Lehrer, schreibt seine Kinderbücher, die schlagartig erfolgreich sind, schon vom "Kleinen Wassermann" an. Er verdiente sehr ordentlich. Das heißt: Der Otfried Preußler, der 1964 mit seiner Familie im Auto das erste Mal in die Tschechoslowakei fährt, ist nicht mehr der mittellose Flüchtling, der alles verloren hat. Und jetzt kommt er in ein Land, das sich zum Teil stark verändert hat. Zwei Jahre später kommt er nach Reichenberg, das jetzt Liberec heißt, und stellt nicht nur fest, dass es die alte Heimat nicht mehr gibt.
Was noch?
Er bemerkt, dass er in seiner Kindheit etwas verpasst hat, dass er keinen einzigen tschechischen Freund hatte. Preußler spricht von "Vergegnungen" von Deutschen und Tschechen. Und er fragt sich, was haben wir eigentlich gemeinsam? Er interessiert sich für die großartige tschechische Kinderliteratur, übersetzt auch einige Bücher. Er gewinnt Freunde in Prag und Liberec. Und irgendwann ist er dann so weit, dass er sein zweites Meisterwerk schreibt: "Die Flucht nach Ägypten". Die Heilige Familie flieht aus dem Heiligen Land nach Ägypten - und der Weg führt über Böhmen. Da geht es immer wieder um die Frage: Was haben wir gemeinsam? Und was hat uns so auseinandergebracht? Das sehe ich als eine Frucht der Reisen in den 60er und 70er Jahren.
Als ich Ihr Buch gelesen habe, stellte ich fest: Ich wusste nur wenig über Otfried Preußler. Ist er hinter seinen Werken in der öffentlichen Wahrnehmung untergegangen?
Das deckt sich absolut mit meinem Empfinden. Über sein Leben wusste ich nur das, was er im Band "Ich bin ein Geschichtenerzähler" offenbarte, der ja relativ spät herauskam. Für mich war die Hauptmotivation, diese Biografie zu schreiben, das Versprechen, mich in mehreren Archiven umsehen zu dürfen. Das war ungeheuer reichhaltig. Ich glaube, Preußler hat durchaus über sich und seine Biografie geschrieben. Aber in einer Weise, dass es oft nicht wahrnehmbar war. Das Interessanteste für mich war vielleicht, dass er im "Starken Wanja" versteckt den Luftkrieg behandelt.
Was macht Preußlers Werk so zeitlos, dass er immer noch die Bücherregale und die Kinderherzen füllt?
Das hat inhaltliche und stilistische Gründe. Preußler schildert Figuren, die in gewisser Weise zeitlos sind. Ein Wassermann, der auf dem Grunde eines Weihers in einem Schilfhaus lebt, das wird für Kinder in den 50er Jahren als Vorstellung so nah und so fern gewesen sein wie heutigen Kindern. Wer eine solche Fiktion entwirft, der entwirft eine zeitlose Fiktion. Viele Figuren bei Preußler verspüren eine gewisse Ohnmacht und emanzipieren sich dann - denken Sie an die Kleine Hexe, die sich am Ende gegen 500 Hexen stellt und sagt: Nur weil ihr definiert, was eine gute Hexe ist, muss ich mich euch nicht anschließen. Sondern ich horche in mich selber hinein und entscheide selber, was das ist, eine gute Hexe zu sein.
Und sein Stil?
Mindestens ebenso gewichtig wie das Inhaltliche ist für mich bei Preußler die Sprache, die ja aus der Mündlichkeit kommt. Er hat viele Geschichten erst einmal seinen Schülern erzählt. Und er hat eine Technik entwickelt, dass er mit einem Diktiergerät in den Wald gegangen ist und sich selber die Geschichten erzählt hat, die gerade entstanden. Der Ursprung ist mündlich, und ich glaube, das hört man den Sätzen an, gerade wenn man sie vorliest, dass es perfekt geformte Sätze sind. Mich erinnern sie immer an Glockentöne, die man anschlägt, dann schwellen sie an, und dann schwellen sie wieder ab. Dann verklingen sie. Preußler hat eine sehr gediegene, melodische, klingende Sprache.
In welche Archive konnten Sie für Ihre Recherche Einblick nehmen?
Ich konnte das Archiv des Thienemann-Verlags ansehen, dort liegen viele Mitschriften, Notizen, Protokolle, die nicht durch Preußlers Hände gegangen sind und dadurch eine andere Perspektive liefern. Dann durfte ich Teile des Familienarchivs anschauen, wo vor allem Pläne, Entwürfe, Fragmente zu finden sind, zum Beispiel ein Exposé zu einem zweiten Teil der "Kleinen Hexe", der nie geschrieben wurde. Ich konnte auch die Skripte von Radioarbeiten einsehen, die er seit den frühen 50er Jahren angefertigt hat. Und ich habe Menschen getroffen, die ihn gekannt haben. Am Ende war eine ganz wichtige Quelle Preußlers Werk selber - ich habe noch mal alles gelesen und dabei Überraschungen erlebt.
Tilman Spreckelsen: "Otfried Preußler. Ein Leben in Geschichten" (Thienemann-Verlag, 304 Seiten, 29 Euro)