Zensur ist allgegenwärtig
Die Bayerische Theaterakademie gastierte mit Jochen Schölchs „Dogville“-Inszenierung bei einem Festival in Shanghai und knüpfte Kontakte mit chinesischen Schauspielschülern und Lehrern
Der erste Schock ist der Smog über der 20-Millionen-Metropole. Der dichte Dunst lässt die Höhe der Wolkenkratzer nur noch erahnen. Doch Regisseur Jochen Schölch kämpft mit einem anderen Schock. Gleich nach der Ankunft zum Gastspiel in Shanghai hat ihm die Dolmetscherin mitgeteilt, dass er am nächsten Tag Probenbesuch von der Zensur bekommen wird. Man nehme Anstoß an den Vergewaltigungsszenen in seiner Inszenierung „Dogville“. Falls man nicht einen Kompromiss finde, sei das Gastspiel beim 11. International Arts Festival Shanghai gefährdet. Das sich über mehrere Wochen erstreckende Festival bietet hauptsächlich klassische Musik, Tanz und Oper. Deutsches Sprechtheater war hier zum ersten Mal vertreten.
Jochen Schölch leitet den Studiengang Schauspiel an der Bayerischen Theaterakademie und das Münchner Metropol-Theater. Als Koproduktion hat er „Dogville“ nach Lars von Triers Film mit seinen Akademiestudenten inszeniert. Die hochgelobte Aufführung war schon letztes Jahr zum Shanghai Arts Festival eingeladen, damals verhinderte eine Geldsperre das Gastspiel. Seit einem Jahr hatten die Veranstalter eine DVD der Aufführung in Händen – sie hätten ihre Beanstandungen vorher äußern können. So denkt ein Europäer. In China denkt man anders: Hat man erst einmal die über 20-köpfige Theatertruppe anreisen lassen, kann man sehr viel leichter Druck ausüben. Denn wer lässt schon einen Tag vorher ein Gastspiel platzen, auf das man zwei Jahre hingearbeitet hat?
Versteinerte Mienen
Zumal die Einladung der erste Schritt einer Kooperation der Shanghai Theatre Academy (STA) mit der Bayerischen Theaterakademie August Everding sein sollte. Fünf Standorte hat die STA in Shanghai, der Hauptsitz liegt im Viertel der Französischen Konzession, das heute noch ein gewisses Bohème-Flair hat. 3000 Studenten lernen hier die artistischen Tanz- und Gesangstechniken der traditionellen chinesischen Oper. Die Vize-Dekanin ist die Schauspielerin Tian Mansha, ein Star in China, die dort auch „Lady Macbeth“ spielt. Die energische, unkonventionelle Professorin kann es sich leisten, den Floskeln der Funktionäre mit klaren Worten Paroli zu bieten. Sie ist die treibende Kraft des Gastspiels und des Austauschs der Akademien.
Vor die Aufführung hatten die chinesischen Götter also den Stress gesetzt. Immerhin: Die in Shanghai nachgebaute Drehbühne (ein Transport wäre zu teuer gewesen) funktionierte. Nur ein Harmonium war nicht aufzutreiben gewesen, der Musiker Fritz Rauchbauer musste sich mit einem Keyboard begnügen. Bei der Durchlaufprobe am nächsten Tag saßen zwei junge Mitarbeiter der Behörde für kulturelle und auswärtige Angelegenheiten mit steinernen Mienen im Zuschauerraum. Ihr Urteil: Die ohnehin stilisierten Vergewaltigungsszenen müssten weiter entschärft werden. So durften die Darsteller weder die Hose aufknöpfen noch das Becken bewegen. Dergleichen realistisch auf der Bühne zu sehen, verletze das Schamgefühl der Chinesen. Seltsamerweise ließen die Zensoren den Schluss unbeanstandet: Eine Massenhinrichtung durch Genickschüsse. Eine in China übliche Exekutionsart, deren Erwähnung in den Medien tabu ist.
Genickschüsse sind erlaubt, offene Hosentürl verboten
Die Nervosität der Theaterleute vor der Vorstellung im ausverkauften 800-Plätze-Theater war gewaltig. Und der Erfolg durchschlagend. Das chinesische Publikum ist berüchtigt für undiszipliniertes Verhalten: Man unterhält sich, isst und trinkt, geht rein und raus. Umso erstaunlicher war die gebannte Stille, die bei „Dogville“ eintrat und anhielt. Am Ende brach spontan begeisterter Applaus aus – auch das absolut ungewöhnlich. In der chinesischen Oper gibt es zwar Szenenbeifall für berühmte Arien der Stars, doch der Schlussapplaus ist kaum mehr als eine müde Höflichkeitsgeste. Hier hingegen brandete sogar Extra-Jubel für den Regisseur auf, als sich Schölch mit den Schauspielern verbeugte. Der Akademiedirektor Han Shang lobte den neuen Stil und die modernen Mittel der Inszenierung. „Das wollen wir kennenlernen“, sagte er. Und die größte chinesische Tageszeitung mit 18 Millionen Auflage druckte gleich zwei hymnische Kritiken auf einer Seite!
Ein Hofbräuhaus gibt's auch
Das große Interesse der Shanghaier Akademiestudenten zeigte sich auch bei den Workshops, die Schölch hielt. Mit Feuereifer beteiligten sich die Chinesen am Improvisationstraining und kamen schnell mit den Deutschen ins Spiel. Die waren ihrerseits beim Besuch einiger Akademie-Klassen schwer beeindruckt von der Präzision, die der strenge Bewegungskanon der chinesischen Oper den Darstellern abverlangt. Bei einer öffentlichen Diskussion mit den Studenten entschied Schölch sich kurzerhand, nicht deutsch, sondern englisch zu sprechen, damit die des Englischen mächtigen Studenten ihn auch ohne verharmlosende Übersetzung verstehen konnten. Er gab ein politisches Statement ab, sprach von Menschenrechten, Massenexekutionen und Zensur in China. Theatermacher müssten eine Haltung haben und Stellung beziehen, um politisch etwas zu bewirken, sagte er. Fast mit Tränen in den Augen fragte ein Student, wie das unter der allgegenwärtigen Kontrolle durch die Partei möglich sein könnte. Man kann nur hoffen, dass er sich damit nicht um seine berufliche Zukunft geredet hat.
Das war viel Stoff zum Nachdenken für die Münchner Studenten. Zeit zum Erkunden der aufregenden Boomtown Shanghai ließ ihnen das dichte Programm (inklusive eines Besuchs im Hofbräuhaus Shanghai) kaum. Doch fanden sie in Hotel-Nähe eine Lieblingsbar, in der viel Rammstein gespielt wurde. Und wenn es mit dem Akademie-Austausch wirklich klappt, hören vielleicht mal chinesische Studenten Rammstein in München.
Gabriella Lorenz
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