Zeig’ der Welt nicht dein Herz
Ein Theaterereignis: In den Kammerspielen inszenierte Luk Perceval Hans Falladas Roman „Kleiner Mann – was nun?“ in eigener Fassung
Irgendwo auf der Welt gibt’s ein kleines bisschen Glück“ – das behauptet ein Schlager der 20er Jahre. Mehr als ein kleines bisschen Glück wollen Johannes Pinneberg und seine Frau Lämmchen gar nicht, aber die Weltwirtschaftskrise gönnt ihnen auch das nicht. Wie Arbeitslosigkeit und Armut Leben vergiften, hat Hans Fallada in seinem Roman „Kleiner Mann – was nun?“ 1932 mit visionärer Hellsicht beschrieben – und das Thema ist nach fast 80 Jahren aktueller denn je. In den Kammerspielen hat Luk Perceval als letzte Premiere der Intendanz Frank Baumbauers seine eigene Bühnenfassung inszeniert und dem Chef zum Abschied nochmals einen sensationellen Erfolg beschert. Nach vier Stunden puren Theaterglücks wollten die Ovationen nicht enden.
In der Mitte der leeren Bühne steht ein riesiges Orchestrion, ein mechanischer Musikwunderschrank, aufgeklappt zum Altar (Bühne: Annette Kurz). Von selbst bläht sich das Akkordeon, spielt das Klavier, schlägt das Schlagwerk. Über die Brandmauern flimmern als Dauerkulisse Bilder aus Walther Ruttmanns Dokumentarfilm „Berlin: Die Sinfonie der Großstadt“. Straßenbilder von 1927, die, abgesehen von der Mode, von heute stammen könnten. Damit vergegenwärtigt Perceval die 20er-Jahre-Atmosphäre, ohne dass die Bilder je von den Schauspielern ablenken.
Ein großes Ja zum Leben
Die sind das Zentrum und Wunder dieser Aufführung. Mit hinreißender Frische spielen Annette Paulmann und Paul Herwig die unerschütterliche Liebe und Naivität des jungen Paars. Es ist ein ständiges Herzen und Küssen, das die Gespenster der Angst bannt. Die Angst heißt für den Verkäufer Johannes Pinneberg: „Nur nicht arbeitslos werden.“ Paul Herwig ist unter seiner Schiebermütze noch kein Mann, sondern „der Junge“, wie ihn seine Frau Lämmchen nennt, unsicher ob der Verantwortung, schwankend zwischen Anpassung und Aufrichtigkeit. Sein moralisches und emotionales Rückgrat ist Lämmchen: Ganz und gar geradlinig, mutig, nie verzagend, immer tröstend und zum Jauchzen bereit.
Im blauen Kleidchen (Kostüme: Ilse Vandenbussche) spielt Annette Paulmann diese junge Frau mit überwältigender Kraft und Ehrlichkeit. „Jetzt haben sie ihn unten“, sagt sie am Ende, als ihr arbeitsloser „Junge“ psychisch abgewrackt ist – und bleibt trotz aller Klarsicht bei ihrem großen Ja zum Leben.
Der Glücksspieler als gebrochener Mann
Epische Erzählung und Spiel fließen ständig ineinander. Die Szenen aus Pinnebergs Arbeitswelt und dem familiären Umfeld inszeniert Perceval fast kabarettistisch. Die Figuren wirken wie scharf überzeichnete Karikaturen wie von George Grosz oder Otto Dix. André Jung brilliert als geschäftstüchtiger Verkäufer Heilbutt und als eitler Schauspieler, Wolfgang Pregler, Stefan Merki und Peter Brombacher schlüpfen in die Rollen von Chefs, Kollegen und Kunden, Hans Kremer macht aus dem Glücksspieler Jachmann eine wunderbar gebrochene Figur. Und Gundi Ellert taumelt als Pinnebergs versoffene Rotlicht-Mutter wie ein dämonisches Gespenst virtuos durch ihr verpfuschtes Leben.
„Einmal schafft’s jeder“ und „Zeig’ der Welt nicht dein Herz“ singen die Akteure in Revue-Einlagen. Die Schlager-Botschaften der 20er und 30er Jahre sind die bittere Würze dieses großen und großartigen Theaterabends.
Gabriella Lorenz
Kammerspiele, heute, 4. und 24. Mai, 19 Uhr, Tel.23396600