Wohin wandert unser Wissen?
Eine Bibliothek ist der erotischste Ort auf der Welt“. Das jedenfalls findet die altjüngferlich spröde Serena, die – man wundert sich kaum – als Bibliothekarin ihre Brötchen verdient. Der Satz fällt in dem weniger erwähnenswerten Horrorfilm „Wilderness“, aber er bringt ein Jahrtausende altes Faszinosum ganz unbeabsichtigt auf den Punkt.
Denn tatsächlich üben diese Buch-Ablagen oder Buch-Sammlungen, wie man die Bibliotheken übersetzen muss, eine ganz besondere Anziehungskraft aus. Nicht zuletzt, weil sie das vielleicht behaglichste Bild für den Eros, den Drang nach Erkenntnis, sind. Man bekommt das gleich beim Betreten der neuen Ausstellung des Architekturmuseums zu spüren. Sechs Meter hohe Regale tun sich vor einem auf, voll gestellt mit alten Bänden, und gedämpftes, warmes Licht schafft diese ganz besondere Atmosphäre der Ruhe und Konzentration, wie man sie eben nur in Bibliotheken antrifft.
Ohne das passende Gehäuse funktioniert nicht einmal die Utopie
In Wirklichkeit sind es Fotofolien, die die Pinakotheks-Wände zieren und maßstabsgetreu das Interieur der Bibliothek von Werner Oechslin in Einsiedeln wiedergeben. Der Schweizer Architekturhistoriker hat über 50.000 wertvolle Bücher aus sechs Jahrhunderten gesammelt: Quellenschriften zur Architektur und Architekturtheorie, zur Kultur- und Geistesgeschichte und – grundlegend für eine Bibliothek – zur Systematik dieser Ordnung, zur Aufstellung.
Davon breitet sich eine schöne Auswahl in Vitrinen aus. Wer sich hier festsaugt, und das kann leicht passieren, ist dem Eros schon erlegen und in der richtigen Stimmung für all die Bibliotheksutopien, -Pläne, -Modelle-, -Bauten, die der Architekturhistoriker Winfried Nerdinger mit seinem Team aufgefächert hat. Von der berühmtesten und quasi Ur-Bibliothek der Antike in Alexandria bis zum spacig geschwungenen Rolex Learning Center des mit dem Pritzker-Preis ausgezeichneten Architektenteams Sanaa in Lausanne.
Denn ohne das passende Gehäuse funktioniert noch nicht einmal die Utopie. Ob realisiert oder nur auf kühnen Skizzen ausgemalt. Man staunt nicht schlecht über die Visionen des megalomanen Étienne-Louis Boullée, der neben seinem berühmten Kugel-Kenotaph für Newton auch einen mächtigen tonnengewölbten Nationalbibliothekssaal entworfen hat. Mit aufklärendem Licht von oben. Genauso haben die Pläne für ein Lenin-Institut (1927) in Moskau, das als kollektives Wissenschaftszentrum der UdSSR alle Bücher der Welt in einer monströsen Bibliothek vereinigen sollte, etwas umwerfend Größenwahnsinniges. Oder das zur gleichen Zeit von Le Corbusier konzipierte Mundaneum, das mit seinem universalen Anspruch gnadenlos scheitern musste.
Hybride Räume für die Zukunft
Man wollte halt gar so viel, gerade wenn’s um das machtvolle, zuweilen als bedrohlich empfundene („Name der Rose“) Wissen ging. Und bis heute kann man nicht ohne Amusement beobachten, wie sehr Bibliotheken auch Prestigeobjekte sind, für die man die Stararchitekten der Zeit engagierte. Von Michelangelos formprägender Biblioteca Laurenziana über die prachtvollen Buchsäle barocker Äbte und Fürsten bis hin zu den Stadtbibliotheken unserer Tage, die jedem offen stehen. Was gar nicht so selbstverständlich ist und auf die Public Librarys in Nordamerika zurück geht – in Boston entstand 1854 eine der ersten. Wobei es längst nicht mehr nur um die „alte“ Weisheit geht, die sich ein Haus baut – so heißt es im Ausstellungstitel –, sondern genauso um die neuen medialen Möglichkeiten. Und also entstehen inzwischen hybride Räume, die das gedruckte Buch wie digitales Wissen „im Angebot“ haben. Und nebenbei noch grenzenloses Surfen durchs Netz ermöglichen, am besten in lässiger Loungeatmosphäre
Die Vision? Wenn alles dauernd überall verfügbar sein wird, braucht’s kein Gebäude mehr. Und doch wurden noch nie so viele Bibliotheken gebaut wie in den letzten 20 Jahren. Sterbende Vögel singen besonders schön, heißt es. Aber Daten und Informationen sind noch lange kein Wissen, die Ergebnisse der Suchmaschinen von einer Ordnung weit entfernt. Auch wenn die Icons auf dem i-Pad angeordnet sind wie die Bücher in einer Bibliothek. Aber die Erotik, von der Serena im Mini-Kino am Ende der Ausstellung schwärmt, die ist dann auch futsch.
Bis 16. Oktober, Katalog 35 Euro
- Themen:
- Pinakothek der Moderne