„ Wir haben den Zuschauer entdeckt“

Vor 25 Jahren startete das deutsche Privat-TV. Der langjährige RTL-Chef Helmut Thoma über Striptease, Quoten und katholische Landfrauen
Abendzeitung |
X
Sie haben den Artikel der Merkliste hinzugefügt.
zur Merkliste
Merken
0  Kommentare
lädt ... nicht eingeloggt
Teilen  AZ bei Google News

Vor 25 Jahren startete das deutsche Privat-TV. Der langjährige RTL-Chef Helmut Thoma über Striptease, Quoten und katholische Landfrauen

AZ: Herr Thoma, haben Sie gestern Dschungelfernsehen gesehen?

HELMUT THOMA: Nein. Ich hab’ mir das vor ein paar Jahren mal angesehen, jetzt weiß ich, wie das geht. Es ist nicht meine Lieblingssendung.

Was ist denn Ihre Lieblingssendung?

Ich schaue hauptsächlich Nachrichten, aber das ist unwesentlich. Wichtig sind die Lieblingssendungen der Zuschauer, das habe ich ja immer gesagt.

Wenn Sie an die Anfänge denken – gab es damals eine Goldgräberstimmung?

Ich würde das verneinen – in Ermangelung von Gold, das haben wir ja nicht gefunden. Aber es war schon eine Pionierstimmung. Ich war bis 1973 beim ORF, ich kannte das öffentlich-rechtliche Fernsehen. Die haben uns ja überhaupt nicht ernst genommen. Darauf hab’ ich auch stark gesetzt: Solange die nicht begreifen, dass es eine neue Art von Fernsehen gibt, können wir still unseren Sender aufbauen.

Sie sagten mal, Sie hätten eine völlig neue Zielgruppe entdeckt: den Zuschauer.

Das sage ich auch heute noch. Der Zuschauer war für die Öffentlich-Rechtlichen so etwas wie ein notwendiges Übel, er zahlte halt die Gebühren. Das Fernsehen war eine Art Behörde, die haben das gemacht, was ihnen selbst gefallen hat.

Und Erotik aus der Lederhose war das, worauf die Menschen gewartet haben?

Leo Kirch hatte 17000 Spielfilme im Lager. Ich startete mit zwölf Filmen. Also musste wir zukaufen, was gut ankommt und auf dem Markt zu haben ist. Die vielen Leute, die sich nicht ins Kino oder zur Videothek getraut haben, konnten da dann sozusagen ganz zufällig hineingeraten.

Hatten Sie damit gerechnet, dass Sie so heftig attackiert würden für Tutti Frutti oder Erika Berger?

Das war schon enorm. In Zeitschriften, Film und Video gab es das ja längst, nur nicht im Fernsehen, weil die Öffentlich-Rechtlichen Angst hatten vor ihren Gremien. Wir haben es gemacht. Und es gab beinahe hysterische Reaktionen der Bayerischen Landesmedienanstalt. Die katholischen Landfrauen haben wahre Veitstänze aufgeführt. Da war aber auch viel von den Öffentlich-Rechtlichen geschürt. Und Sat1 war Hauptangriffspartner, die wollten ja ein besseres ZDF sein und haben brav Kirchs Filme gezeigt. Wir wollten anders sein. Ein Fernsehen, das auf die Leute zugeht, sie schlicht und einfach unterhält und nicht dauernd den Zeigefinger hebt.

Stichwort Tortenschmeißen bei „Alles nichts oder?!“. Erneut drohte das Abendland unterzugehen...

Wir haben halt ausprobiert. Und natürlich mussten wir uns mit dem Vorwurf auseinandersetzen, dass wir Nahrungsmittel verschwenden, während anderswo die Kinder verhungern. Die Torten waren natürlich aus Seifenschaum. Im Übrigen: Schauen Sie sich mal an, was in den Schwarzweiß-Slapstickkomödien Torten geworfen wurden.

Was haben die Öffentlich-Rechtlichen von den Privaten gelernt?

Enorm viel. Das geht damit los, dass sie gelernt haben, dass man auch 24 Stunden senden kann. Sie haben gelernt, wie man Sport präsentiert, dass man keine Ansagerinnen braucht, was Frühstücksfernsehen ist – all das, was heute als selbstverständlich gilt, kam von RTL. Man braucht schon ein bissl ein Gespür und das hatte ich wohl. Zum Beispiel bei der Formel 1. Es waren ja lange Zeit höchstens deutsche Zündkerzen im Spiel, mit dem Erfolg von Michael Schumacher hatte keiner gerechnet.

Außer Helmut Thoma!

Es war ein rauschender Erfolg.

Was verstehen Sie unter Qualitätsfernsehen?

Es muss handwerklich gut gemacht sein. Alles andere halte ich für eine völlig sinnlose Diskussion. Man verwechselt da Qualität mit persönlichen Vorlieben. Es gibt keinen goldenes Niveau-Meter, das muss jeder Einzelne selbst entscheiden. Als das „Schloss am Wörthersee“ mit Roy Black das erste Mal gezeigt wurde, hat sich die ARD vor Abscheu gar nicht eingekriegt. Das war halt ungewöhnlich, und Roy Black war damals kaum mehr zu versichern wegen seiner gesundheitlichen Disposition. Später hat die ARD die Serie gekauft und in allen Dritten rauf- und runterwiederholt.

Sex-TV, Big Brother, Dschungel-Fernsehen. In England lief eine Sendung, in der sich ein Mann vor laufender Kamera umbrachte. Wo sollten Grenzen sein?

Wenn Charlotte Roche oder Lady Bitch Ray oder wer dem Oliver Pocher in der ARD ihre Körpersekrete überreicht, sehe ich das weitaus kritischer – das ist pure Provokation und auch noch völlig sinnlos. Eine Doku über einen Selbstmörder? Der Tod gehört zum Leben, das wird das Fernsehen nicht ausblenden. Wie intensiv man das zeigen muss, in welcher Form, darüber kann man diskutieren, aber auch da spielt die persönliche Einstellung eine enorme Rolle.

Prägt ein Sender nicht auch den Geschmack der Zuschauer?

Das glaube ich weniger. Ein Sender kann keinen Geschmack prägen, der nicht schon in den Menschen ist.

Aber muss man denn alles machen, was möglich ist?

Man muss gar nichts, aber es sollte vieles möglich sein. Trends lösen sich ja auch ab, da kommt wieder die Brutalo-Welle, dann wieder etwas ganz Sanftes. Es gibt Entwicklungen, aber letztlich wird, solange Menschen vor dem Fernsehapparat sitzen, ungefähr das Gleiche gesendet: Komödie, Tragödie, Sport, Info. Menschen schauen Menschen.

Was würden Sie dem Fernsehen heute wünschen?

Wir waren die Ersten, die einen Nachrichten-Anchorman holten, der keine grauen Haare hatte – ein Wagnis, aber es hat sich rentiert. Wir starteten den Versuch „Gute Zeiten schlechte Zeiten“ und es dauerte ein Jahr, bis es funktioniert hat – heute unvorstellbar. Heute wollen die Eigentümer sichere Renditen, was verständlich, aber auch der Tod der Innovation ist. Ein bissl Mut wäre schon gut. Mut ist heutzutage eine höchst gefährdete Eigenschaft.

Tina Angerer

Lädt
Anmelden oder registrieren

Zum Login
Zu meinen Themen hinzufügen

Hinzufügen
Sie haben bereits von 15 Themen gewählt

Bearbeiten
Sie verfolgen dieses Thema bereits

Entfernen
Um "Meine AZ" nutzen zu können, müssen Sie der Datenspeicherung zustimmen.

Zustimmen
 
0 Kommentare
Bitte beachten Sie, dass die Kommentarfunktion unserer Artikel nur 72 Stunden nach Veröffentlichung zur Verfügung steht.
Noch keine Kommentare vorhanden.
merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.