William Boyd erzählt das Leben einer großen Abenteuerin im 20. Jahrhundert

Das Spiel mit Fiktion und historischer Realität hat der Britische Schriftsteller William Boyd schon in vielen seiner Romane perfektioniert. Er erfand Picassos angeblichen Freund Nat Tate im gleichnamigen Buch und narrte die New Yorker Kunstwelt mit einer realen Ausstellung der Werke. Er schrieb die Autobiografie des fiktiven Regisseurs John James Todd („Die neuen Bekenntnisse“), ein Parforceritt durch die Film- und Kriegsgeschichte, und er ließ in „Eines Menschen Herz“ einen fiktiven Kunsthändler durch die Wirren des 20. Jahrhunderts taumeln. In der englischsprachigen Welt gilt Boyd als herausragender Spannungsautor, weshalb er auch die Bond-Serie um das sehr gelungene „Solo“ verlängern durfte. In Deutschland aber hat der 63-Jährige nie den Status erlangt, der seinem Können entspricht.
Aber vielleicht ändert sich das mit seinem jüngsten Werk „Die Fotografin“, ein Roman, der alle Facetten von Boyds Talent vereint. Amory Clay heißt die Protagonistin und Erzählerin, die auf 560 prallen Seiten dem Leser ihr wechselhaftes Leben ausbreitet. Nicht zum ersten Mal wählt Boyd die weibliche Perspektive, am besten gelang dies bislang in „Brazzaville Beach“, dem Abenteuer der Primatenforscherin Hope Clearwater. Seinen neuen Roman sieht Boyd als Hommage an all die realen Abenteuerinnen des frühen 20. Jahrhunderts, die doch oft im Schatten der berühmten männlichen Kollegen standen.
Echte Fotos illustrieren ein fiktives Leben
Dutzende von Fotos illustrieren das Buch, angebliche Schnappschüsse von Clay, in Wirklichkeit aber Fundstücke aus Boyds riesiger Sammlung. „Ich habe schon immer anonyme Fotografien gesammelt und Familienalben auf Flohmärkten gekauft“, sagt Boyd. Diese oft rätselhaften Fotos geben das Gerüst des Romans vor. Die Kindheit der 1908 geborenen Clay wird geprägt durch ein traumatisches Erlebnis mit ihrem Vater, einem depressiven und schizophrenen Autor. Als Jugendliche gelangt sie ins brodelnde London und verdient ihr erstes Geld als Gesellschaftsfotografin. Den Durchbruch als eigenständige Künstlerin erlebt sie im verruchten Berlin mit Reportagefotos aus Nachtclubs und Bordellen, die ihr den erhofften Skandal in London bescheren. Boyds Figuren sind immer dort, wo der Zeitgeist weht und Geschichte geschrieben wird. Das ist zwar manchmal hart am Klischee, aber immer hoch unterhaltsam.
Mit John Steinbeck im Ritz
Als Clay in Paris die Befreiung von der Nazi-Besatzung feiert, trifft sie im Hotel Ritz auf Robert Capa, John Steinbeck, Marlene Dietrich – alle in einem Raum. Es ist ein bisschen so wie in Woody Allens „Midnight in Paris“, allerdings ernst gemeint. Auch im Vietnamkrieg mischt Amory Clay mit. Die größte Herausforderung aber bleibt das Leben selbst, der Umgang mit den Männern, der Liebe, den Kindern und dem unvermeidlichen Alter. Behält man sein Leben in der Hand und bestimmt auch die Dauer? Die betagte Amory Clay gerät in ihrem einsamen schottischen Cottage ins Grübeln. Aber da ist die couragierte, trinkfeste, eigenständige und jeden Schicksalsschlag überwindende Fotografin dem Leser längst so ans Herz gewachsen wie alle großen Boyd-Figuren, die einem noch weit nach Ende der Lektüre im Kopf herumgehen. Im Original heißt der Titel „Sweet Caress“ und spielt auf ein Zitat aus dem Roman „Avis de Passage“ des französischen Schriftstellers Jean-Baptiste Charbonneau an. Dieser empfiehlt – was immer auch geschehe – stets für die „sanfte Liebkosung“ des Lebens empfänglich zu bleiben. Charbonneau ist nicht nur Liebhaber von Amory Clay, er und sein Roman sind natürlich reine Fantasieprodukte des großen Täuschers und Unterhalters William Boyd.
William Boyd: „Die Fotografin“ (Berlin Verlag, 560 Seiten, 24 Euro)