"Will Kutteln kochen": Das Wende-Tagebuch von Günter Grass

Die Wiedervereinigung, gespiegelt im Speiseplan eines Großschriftstellers: Günter Grass’ Wende-Tagebuch „Unterwegs von Deutschland nach Deutschland“.
von  Abendzeitung

Die Wiedervereinigung, gespiegelt im Speiseplan eines Großschriftstellers: Günter Grass’ Wende-Tagebuch „Unterwegs von Deutschland nach Deutschland“.

Den Neujahrstag 1990 begann Günter Grass natürlich mit einer Pilzsuche an den Korkeichen hinter dem großzügigen, portugiesischen Wohndomizil. Die Ausbeute geriet mickrig. Ähnlich geht es dem Leser, nachdem er im Grass’schen Tagebuch „Unterwegs von Deutschland nach Deutschland“ dem Dichter 256 Seiten und ein Tagebuchjahr über die Schulter geschaut hat.

Am 2. Januar ist Grass gedanklich bei Auschwitz, das ihm als „zuletzt verbliebene Möglichkeit“ erscheinen will, „mich auf Deutschland zu berufen“. Zu lautstark klingen ihm die neuen deutschen Parolen im Ohr. Der Nobelpreisträger bastelt an seiner Rede zum Thema und an der Erzählung „Unkenrufe“, quält den Leser mit detaillierter Beschreibung der Gartenarbeit und gibt routiniert den Koch und Künstler: „Gestern der vierpfündige Petrusfisch. Ich zeichnete ihn, bevor ich ihn mit Salbei füllte.“

Ohne jeden Selbstzweifel

Grass besucht die DDR, erschaudert angesichts der heruntergekommenen Industriebrachen, hält Lesungen und Vorträge und hadert mit Kohl und Lafontaine. Dazwischen notiert er die Besuche des Familienclans und stellt Überlegungen zu seinen Texten und Zeichnungen an: Viel Privates, aber nichts wirklich Persönliches. Welten trennen ihn von Thomas Mann.

Zum Genre der literarischen Tagebücher hat Grass nichts beizutragen, wohl auch, weil ihm der Selbstzweifel fehlt. Alles, was er denkt, schreibt, malt, politisch einfordert scheint ihm gelungen, richtig, auch wenn – rückblickend – noch schwerer ersichtlich erscheint, wie ein jahrelanger Weiterbestand der DDR als souveräner Staat hätte möglich sein sollen.

Auch Fußball ist keine Rettung

Folgerichtig ist Grass nach der Volkskammerwahl vom 18. März „nur noch mäßig gespannt auf die DDR“, deren Bevölkerung sich dreisterweise anmaßt, anders zu wählen als der Großdichter wünscht. Alles Habenichtse, deren „vulgärer Materialismus als Nationalverständnis“ den Besitzer mehrerer Ferienhäuser natürlich abstößt. Im April ist sich Grass sicher, dass der geplante Währungsschnitt „ein Schuß in den Ofen sein wird, weil die DM (so heiß ersehnt) sofort für westliche Produkte und Westreisen ausgegeben wird“. Die Alternative (Grenzen schließen? Bevölkerung einmauern?) erspart er sich dann doch.

Auch die Fußball-WM bringt keine Entspannung: Grass drückt Tschechien die Daumen beim Viertelfinale gegen Deutschland (bekanntermaßen vergeblich) und hegt die Hoffnung, „es möge Kamerun gelingen, die Engländer zu schlagen, worauf sie im Halbfinale den Deutschen zeigen, was eine ehemalige Kolonie auf die Beine zu stellen vermag“ (England gewann). Drei Tage später: „falls England heute die Deutschen besiegt...“ – nein!

Dichters Speiseplan

Immerhin erhalten spätere Grass-Biografen durch das Tagebuch einen überaus genauen Speiseplan des Dichters vom zitierten Petrusfisch zu Beginn 1990 bis zum 28. Januar 1991 („Will Kutteln kochen!“): viel Kaninchen in Rotwein und ordentlich Grappa mit Jürgen Flimm.

Was dieses Buch so unerträglich macht, ist die herablassende Haltung des Autors, sein Hang zur Verallgemeinerung: „Bilden achtzig Millionen einzig auf ihren Wohlstand konzentrierte Deutsche eine erträgliche Größenordnung?“, fragt sich Grass. So erreicht seine Lektion in Langeweile und geistiger Bevormundung nicht im geringsten die literarische Qualität und gedankliche Reife, mit der beispielsweise Cees Nooteboom 1991 in seinen „Berliner Notizen“ die deutsche Wendezeit festhielt.

Volker Isfort

Günter Grass: „Unterwegs von Deutschland nach Deutschland – Tagebuch 1990“ (Steidl, 256 S., 20 Zeichnungen, 20 Euro)

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