Wie leiden die Reichen?

Maxim Gorkis „Wassa”, inszeniert von Alvis Hermanis in der Spielhalle der Münchner Kammerspiele
von  Mathias Hejny

Maxim Gorkis „Wassa”, inszeniert von Alvis Hermanis in den Kammerspielen

Vom Titel gibt es nur die Hälfte. Dafür ist das Stück nicht nur komplett, sondern auch im überbreiten Cinemascope zu bestaunen. Für das, was der lettische Regisseur Alvis Hermanis unter Guckkastentheater versteht, scheint das Schauspielhaus zu eingeschränkt zu sein. Deshalb ließ er seiner „Wassa”-Inszenierung in der Spielhalle der Kammerspiele eine Bühne bauen, die dicht an das Publikum herangerückt ist und das ganz große Kino möglich macht.

Der Zuschauer sitzt in der Totale und zoomt seinen Blick auf die Nahaufnahmen. Ausstatterin Kristine Jurjane füllte den Raum detailverliebt vom Holzboden über Kachelofen und Wintergarten mit allem, was zu einer großbürgerlichen russischen Wohnwelt der vorletzten Jahrhundertwende gehört. Der kompromisslose Naturalismus ist nicht nostalgische Dekoration, sondern bebildert, wie das Sein auf das Bewusstsein wirkt – und das ist das einzig Klassenkämpferische, das Hermanis Maxim Gorki in seiner erstaunlich intensiven Inszenierung entlockt: Schon während der Minuten, in denen Wassa Schelesnowa nach dem Aufstehen von einem Dienstmädchen in ein Korsett gezurrt wird, erzählt gequältes Keuchen vom Leiden der Reichen.

Die Verkürzung der Heldin auf den Vornamen rückt sie noch stärker ins Private. Und was hier von Wassa offenbar wird, ist nicht nur die hartherzige und habgierige Herrin im Haus. Elsie de Brauw gestattet ihr Schwächen und Weichheiten. Tief in ihrem Herzen fühlt sie trotz allem eine Sehnsucht danach, eine zärtliche Mutter sein zu können. Aber der Ehemann ist seit 15 Jahren sterbenskrank ans Bett gefesselt, und seither führt sie nicht nur den großen Haushalt, sondern auch das Unternehmen der Schelenows. Im Ringen um die knappen Margen im Flussschiffergeschäft wird mit harten Bandagen gekämpft.

Was das Überleben im Business sichert, kann zu Hause nicht ganz falsch sein. Wo immer der Zusammenhalt und der Wohlstand des Clans durch seine labilen Mitglieder gefährdet ist, wird intrigiert, getrickst und betrogen. Und wenn es sein muss, auch gemordet: Wassas herzkranker Schwager Prochor (Stephan Bissmeier), der seine Anteile aus der Firma ziehen wollte, stirbt an einer Überdosis einer seiner Medikamente.

In der naturalistischen Szene wird hyperrealistisch gespielt: Elsie de Brauw scheint oft den Text zu improvisieren. Benny Claessens beendet Sätze mit einem Is-ja-egal-Prusten. Er spielt Pawel, den körperlich verwachsenen und mental völlig verstörten Sohn. Damit Firma und Familie enger zusammen kommen, wurde er mit der Tochter (Brigitte Hobmeier als Ljudmila, die den Zumutungen kichernd zu entfliehen versucht) des Geschäftsführers (Peter Brombacher als stoisch-störrischer Michailo Wassiljew) verkuppelt. Claessens wälzt seine ganze Physis nörgelnd, jammernd, heulend und sabbernd durch das Haus jenseits der dort herrschenden Etikette: Ein Monster der Gefühligkeit, das mit seinem enthemmten Selbstmitleid terrorisiert. Es braucht einen Schwächeanfall, bis auch die Mutter ausspricht, worunter sie leidet: „Liebt mich! Ein bisschen”.

Spielhalle, bis Mi, 10., 15. 2. und im Februar, 19.30 Uhr, Karten: Tel. 23396600

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