Wie Frieden wahren? Gastbeitrag von Christine Rieck-Sonntag: Krieg hat keine Beine

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Als vierjähriges Kind habe ich 1945 gesehen, wie die Kriegsheimkehrer mit geschnitzten Krücken unter der Achsel auf einem Bein hupften. "Das andere hat er im Krieg verloren", sagte die Oma. Wie verliert man ein Bein, dachte ich? Aber ich fragte nicht, ich hatte als Kind das Gefühl, die Großen darf man vieles nicht fragen. An Silvester standen wir dann mit den Nachbarn auf der Straße und sangen gemeinsam und lauthals: "Nun danket alle Gott". Und mein Vater weinte. Ihm liefen richtige Tränen runter. "Er ist heimgekommen mit zwei Beinen und hat beide Arme. Das war Rettung", flüsterte mir mein Opa zu.

Mit den Großeltern ging ich jeden Tag in den Wald. Wir suchten Pilze und Schwarzbeeren und sammelten sackweise Kiefernzapfen und Steckerl zum Heizen im Winter. Ich dachte, die spielen mit mir. Ich wusste nicht, was "arm" heißt. Nachts schlupfte ich heimlich zur Oma ins Bett. Der Strohsack hatte eine Kuhle, in der wir zusammenrutschten. Das war wie ein warmes Nest. Es wurde mein Bild für Geborgenheit.
"Wir hatten eine schwarze Garnison im Dorf"
Aber wenn ein Gewitter kam, stand die Oma auf, zog sich an, zündete eine Kerze am Fenster an. Sie holte ihr Gesangbuch und betete um Schutz. "Wenn der Blitz einschlägt im Dorf, muss einer wach sein, der’s merkt." Das war Verantwortung über die Familie hinaus. Hinten auf dem Gepäckträger fuhr ich mit meiner Tante, der Landhebamme, zu den Wöchnerinnen. Ich durfte die Säuglinge baden. Manche wurden jede Woche dunkler, das waren die "Negerbabys", die ich besonders mochte. Wir hatten eine schwarze Garnison im Dorf.
Die "Neger" nannten die Hebamme "weiße Frau" und gaben ihr Bohnenkaffee und Penizillin. Das brauchte sie für andere Entbindungen. "Und die Care-Pakete haben sie geschickt und die Säcke voll Zucker und Haferflocken und Kakao für die Schulspeisung," sagte die Tante: "Und später holen sie die Babys und Mütter nach Amerika. Die Neger sind gut. Sag nicht Amischicksen zu ihren Frauen." Das war Spielen und Leben-Lernen für mich.
Eine Farbige, der ich Jahrzehnte später davon erzählte, schaute mich hart an und sagte: "Und wir saßen in Amerika, warteten auf unsere Männer und Boys. Und die kamen dann mit einem blonden ,Fräulein’. Die hatten aber keine Chance: Weder konnten sie im Schwarzenviertel leben, noch bei den Weißen." Ich erschrak. Die andere Seite, die hatte ich nicht bedacht. Ich lernte über den Tellerrand schauen. Realität.
Und all das gehört zum Frieden-Lernen. Rettung und Geborgenheit, Lachen und Singen und Verantwortung, Träumen und Zuhören und Realität. Spüren, wie es mir selber geht – und ahnen, wie es dem anderen vielleicht geht. Reden, fragen, hinhören und auch schweigen. Frieden-Lernen ist eigentlich Leben-Lernen.
"Und wir redeten über unsere zwei deutschen Staaten"
Als ich den Oder-Radweg entlangradelte, als ich nach Seelow kam, wo zwanzigtausend Russen in den Hügeln bei der Befreiung Deutschlands gestorben waren, bin ich verstummt. Und habe mich geschämt. Das hatte ich so nie gehört. Nie wirklich gespürt, die Befreiung von der Ostseite. Wie "amerikanisch" war ich aufgewachsen! Jedes Schulkind in Brandenburg hatte Seelow besucht zu DDR-Zeiten.
Ich saß mit den Freundinnen auf einem Baumstamm, wollte mich nicht auf die Erde setzen, die vielleicht gar nicht sehr dick die Stahlhelme bedeckt. Und fragte sie, ob sie als Kinder nur diese Seite gehört hatten. Ob das vielleicht damals Zwangs-Klassenfahrten waren? Und wir redeten über unsere zwei deutschen Staaten. Über Utopien und Hoffnungen. Über zerronnene Träume, verpasste Gelegenheiten, Sturheit und Schuld. Über die Stasi und den Verfassungsschutz, die Wiederbewaffnung und die Berliner Mauer.
Frieden bewahren? Ich denke ja noch immer am Frieden-Machen herum und bin dabei auch immer noch in meiner kleinen Welt, der deutschen Nachkriegsgeschichte. Wie kann ich weiterdenken – zu Müttern im Jemen, zu Frauen im Iran und Nigeria, in Äthiopien und in Burundi, zu den Sinti in Bulgarien und Tibetern im Himalaya, ohne dass es mir den Kopf zersprengt? Welche Erfahrungen machen Kinder in Saudi-Arabien, wie werden sie in Mali erzogen, in Guatemala, in Kuba? Wie können wir einander verstehen? Was wissen wir von ihrem Hunger, von Flucht, von Kindersoldaten, Überschwemmungen und Seuchen, was hören wir von Ebola?
"Aus unseren Kindererfahrungen kneten wir uns einen Sehnsuchts-Kuchen"
Was erfahre ich denn überhaupt? Wer siebt mir die Nachrichten? Und wie werden sie gefärbt? Wer hat Interesse, dass ich wie denke? Ich will nicht nur mit den Nachbarn Frieden halten über meinen Gartenzaun. Ich will auch das Große zumindest mit-denken. Am Fenster sitzen, wie meine Großmutter. Aufpassen, wenn es brennt. Oder schwelt und glimmt, bevor es auflodert.
"Der Krieg hat keine Beine, / der kommt nicht von alleine, / der kommt nicht über Nacht. / Ein Krieg der wird gemacht!", haben wir einmal gesungen in der Friedensbewegung.
Aus unseren Kindererfahrungen kneten wir uns einen Sehnsuchts-Kuchen, eine Lebens-Vor-Stellung. Sinn-volles, gutes Miteinander-Leben. Leb-Kuchen backen wir zu Weihnachten. Und wollen in der Familie feiern. Und wir träumen jedes Jahr, dass dieses warme Miteinander gelingen soll.
"Krieg ist gegen das Leben, Krieg tötet"
Aber noch ist Adventszeit – eigentlich eine Fastenzeit, eine Nachdenkzeit. Was werden wir feiern? Die Geburt eines Kindes. Das war schon immer ein heiliges Ereignis. Und die Frauen, die dieses neue Leben hervorbringen können, waren geachtet. Das kleine, schwache neue Leben zu hüten, zu schützen, zu ermöglichen, war die Arbeit der ganzen Familie. Vor Jahrtausenden war es die Hoffnung der ganzen Gruppe, dieses Kleine großzuziehen zum Überleben aller.
Das ist eigentlich Feminismus: Schutz des Kleinen und Schwachen und Würdigung der Gebärerinnen, von der Mutter Erde bis zu den Tier- und Menschenmüttern. Kostbar war der Samen als Saat für einen neuen Lebenszyklus. Das war Lebens-Arbeit, Friedens-Arbeit, gemeinsames Leben galt es zu bewahren.
Krieg ist gegen das Leben. Krieg tötet. Schon den Krieg mitzudenken als Möglichkeit, schränkt unsere Friedensversuche ein. Aber geht es ohne Krieg und Waffen? "Die Menschheit hat doch schon immer…", sagt man mir. Ich kann diese Lüge nicht mehr hören!
"Wir können, als wir uns zugetraut hätten"
Wir haben Beweise, dass es Hoch-Kulturen gab, die diese Friedensarbeit schafften, ohne Kriege. Wissenschaftliche Forschung und Bodenfunde belegen, es gab Kulturen mit Schrift, und Sprache, Sozialstruktur und Handel über halb Europa vor zehntausend Jahren am Ufer des Schwarzen Meeres. Diese Menschen führten keine Kriege, hatten keine Waffen. Kein Mächtiger herrschte. Das Leben und Lebengeben stand im Mittelpunkt. Was dem Weiterleben nützt, hatte Priorität. Das war eine Zeit lange vor den Pyramiden, vor Abraham und Gilgamesch.
Und Weihnachten erzählt davon. Von Geburt und Schöpfung. Von Anbetung und Frieden. Dahin können wir nicht zurück? Das sind Träume, Utopien? Können wir denn so weiter wie bisher? Wollen wir so weiter – nur weil’s im eigenen Haus gerade nicht brennt, sondern nur draußen vor dem Fenster? "Seid Realisten, fordert das Unmögliche", war ein Hoffnungsschrei – lange vor Corona. Wer von uns hätte vor einem Jahr ein Leben für möglich gehalten, wie wir es jetzt führen müssen? Wir können, wir können mehr, als wir uns zugetraut hätten, wenn es ums Überleben geht!
"Von wem lassen wir uns befehlen, was wir denken und tun?"
Vielleicht gibt uns Corona eine verschärfte Advents-Fastenzeit? Wir spüren, was uns fehlt an Gemeinschaft, an Gesang und Tanz und Lebensfreude, an Miteinander. Wir danken, denn wir leben gut hier, trotz alledem. Nutzen wir die Zeit, andere Lebensmöglichkeiten zu denken, Ziele zu ändern, Unvorstellbares auszuprobieren – was wäre wenn… Wenn wir die Hand ausstrecken würden, nicht nur nach dem Westen, sondern auch nach Osten? Wieder einmal Friedensangebote losschickten, so wie es Gorbatschow riskierte.
In der Heiligen Nacht trafen sich im Ersten Weltkrieg Soldaten im Schützengraben von beiden Fronten und feierten eine Nacht, dass wir alle Menschen sind. Und am nächsten Morgen wurde weitergeschossen. Befehl. Von wem lassen wir uns befehlen, was wir denken und tun? Wir sind stolz auf unsere Freiheit – und lassen uns in Feindbilder drängen?
Christine Rieck-Sonntag und ihr Zyklus "Nie wieder"
Über vieles haben wir keinen Überblick. Viel können wir nicht nachprüfen. Bilder lügen. Nachrichten werden manipuliert. Aber wir können mitdenken: Wem soll diese Meldung nützen? Welches Bild soll da in mir aufgebaut werden? Nützt das dem Frieden? Hilft das unserem Zusammenleben, dem gemeinsamen Überleben?
Zum 50-jährigen Kriegsende habe ich als Malerin versucht, Bilder aus tiefen Kindheitserinnerungen aufs Papier zu bringen, für eine Gemeinschaftsausstellung in Landshut und Dresden. "Nie wieder" heißt der Zyklus, Tuschezeichnungen, schwarz/weiß – ein schmerzhafter Versuch, noch einmal hinzusehen mit dem Blick des vierjährigen Mädchens und mit dem Blick der Frau und Mutter. Eine Mahnung an mich und uns, Friedensarbeit zu machen mit aller Kraft und Fantasie. Denn Krieg ist Drückebergerei vor der mühsamen Arbeit am Frieden.
Mehr Informationen: crs-art.de