Werdet wie die Kinder!
Nach der „Walküre“ im März hatte Nikolaus Bachler miese Laune. Die Münchner Presse sei dem Konzept-Theater der 1990er Jahre verhaftet, schimpfte er bei der Vorstellung des Spielplans 2012/13. Die Zeitungs-Verleger möchten ihm endlich neue Leute auf seinem Niveau schicken. Ohnehin habe er dem Regisseur Andreas Kriegenburg prophezeit, dass die „Walküre“ den Kritikern nicht gefallen werde.
Irgendwie hatte der Intendant ja recht. Zwar werden, im Rückblick von „Siegfried“ betrachtet, das Vaterpathos und die Regiekonfektion des zweiten „Ring“-Abends nicht besser. Doch die Abwesenheit des Bewegungschors aus „Rheingold“ klärt sich rückwirkend auf. Die „Walküre“ ist die Tragödie des Gottes Wotan. Jetzt aber, in „Siegfried“, da die Handlung der Menschenwelt und ihren Katastrophen näher kommt, sind die Körperknäuel zurückgekehrt.
In der Wissenswette des ersten Akts, die Musik und Handlung der ersten beiden Abende ins Gedächtnis zurückruft, fährt Mimes Höhle virtuos auseinander, um die Menschengruppen aus „Rheingold“ sichtbar zu machen. Nur das lebende Bild der Geburt Siegfrieds fällt kitschnah heraus. Später unterstützt der Bewegungschor den Helden beim Schmieden des Schwerts als belebte Natur nach Art der Heinzelmännchen: Eine Massenszene, die perfekt mit dem Monumentalismus von Wagners Musik zusammengeht.
Im zweiten Akt hat sich der paradiesische Urzustand des „Rheingold“-Beginns in ein düsteres Gefängnis verwandelt. Kriegenburg gelingt es hier, die Geschichte als höheres Kindertheater naiv und zugleich für „Ring“-Fortgeschrittene zu erzählen. Eine echte Meisterleistung ist die oft langatmige Szene auf dem Walkürenfelsen. Hier setzt der Regisseur Brünnhildes Angst vor dem Verlust ihrer jungfräulichen Göttlichkeit und Siegfrieds pubertäres Drängen genau gegeneinander.
Dem strahlenden Kraftgesang von Catherine Naglestad (Brünnhilde) und Lance Ryan antwortete in der Premiere ein nicht minder kräftiger Bravosturm. Mit dem Kanadier bietet die Staatsoper den besten Siegfried seit Jahrzehnten auf. Mit bronzenem Tenor bewältigt er den dritten Akt so strahlend, frisch und textverständlich wie den ersten. Seine Verausgabung deckt sich mit dem Charakter der Figur, die wie eine Kerze an beiden Enden brennt.
Andreas Kriegenburg sieht Siegfried als dunkelblonde Bestie mit gelegentlichen Anflügen von Menschlichkeit. Thomas J. Mayers Wanderer bewegt sich ohne Reserven stets am oberen Anschlag der Lautstärke. Sein an sich stimmiges Porträt eines abgehalfterten Willensmenschen würden ein paar Stimmfarben mehr bereichern. Wolfgang Ablinger-Sperrhacke hat die Statur eines Riesen und einen fast heldischen Tenor, verwandelt sich als Mime aber dennoch kunstvoll in einen nerdigen Zwergen-Zausel. Ein apartes Waldvögelein (Anna Virovlansky) und ein profunder Fafner (Rafal Siwek) erfreuen außerdem das Ohr. Nur die Erda (Jill Grove) scheint derzeit unbesetzbar zu sein.
Kriegenburgs Inszenierung bevormundet den Zuschauer nicht interpretierend. Sie gibt der Musik Raum. Kent Nagano betont mit dem überragenden Staatsorchester die Strukturen und den sensuellen Farbenreichtum. Der Generalmusikdirektor präpariert zarte Nebenstimmen heraus. Er schneidet impressionistisch zarte Effekte hart gegen bisweilen brutale Ausbrüche, die jedoch stets kontrolliert bleiben.
Wie immer wackelte es in einigen raschen Passagen zwischen Bühne und Graben. Wer hier allerdings die Vergangenheit verklärt, sollte bedenken: Die beiden Vorgänger Naganos mögen bessere Begleiter gewesen sein, doch der Klang interessierte sie kaum.
Ein Buh störte beim Erscheinen Kriegenburgs die Harmonie. Momentan scheint sich dieser „Ring“ wieder zu runden – Gewissheit gibt es erst nach dem Schlussakkord der „Götterdämmerung“. Und dieses Risiko ist nicht der geringste Reiz dieser Neuproduktion.
Nationaltheater, wieder am 31. Mai und 3. Juni sowie bei den Opernfestspielen. Infos und Karten unter Tel. 21 85 19 20