Wenn Nietzsche ein paar Tropfen Popkultur nippt

Das gezeichnete Leben Nietzsches, Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit” und Thomas Bernhards „Alte Meister”: Graphic Novels, vormals Comic genannt, erobern die Hochkultur
von  Robert Braunmüller, Volker Isfort

Nietzsche starb zweieinhalb Jahrtausende nach der Geburt der Tragödie, aber Jahrzehnte vor Erscheinen der ersten Mickey Mouse. Und die Abenteuer des Tristam Shandy sind fast zweihundert Jahre älter als die von Bat-, Super- und Spiderman. Neuerdings aber teilen alle ihr Schicksal als gezeichnete Helden. Der Comic sucht sich seine Geschichten aus den Feldern der Hochkultur und trägt nun den edleren Namen Graphic Novel. Ein boomendes Feld auf dem eher darbenden Buchmarkt. Der Bildungsbürger muss keineswegs erschrecken, es geht nicht um die Banalisierung der Kultur.

Dafür setzt „Nietzsche” von Michel Onfray und Maximilien Le Roy ein bisschen viel voraus: Um ihre Graphic Novel zu verstehen, sollte man die „Carmen”-Verehrung des Philosophen kennen. Die beiden Franzosen erzählen Nietzsches Leben in einer Rückblende: Der im Wahnsinn auf der Terrasse der Weimarer Villa Silberblick dahindämmernde Philosoph lässt in einem wachen Moment sein Leben an sich vorüberziehen.

Auf 127 Seiten wird der Wissensstand eines guten Lexikon-Artikels aufbereitet: Nietzsches Kindheit im Naumburger Pfarrhaus, der fatale Kölner Bordell-Besuch, die an Lou Salome gerichtete Atheismus-Predigt im Petersdom fehlen ebensowenig wie die Umarmung des Pferdes im Turiner Winter von 1889. Alpträume, Migräne-Anfälle, der Feldzug von 1870/71 der beginnende Wahnsinn sind sehr suggestiv gezeichnet.

Natürlich lassen sich die Autoren die Pointe eines christlichen Begräbnisses für den Atheisten nicht entgehen. Nietzsche wird zum unverstandenen Vordenker der Moderne stilisiert: Diese Graphic Novel ist ein sehr typisches Dokument der französischen Wertschätzung für den widersprüchlichsten aller Philosophen, dessen Ruf bei uns noch immer wegen des Nazi-Missbrauchs angekratzt ist (Knaus, 127 S., 19,99 ).

Lustiger als dieses hochpathetische Buch ist Nicholas Mahlers Version von Thomas Bernhards Roman „Alte Meister”, in dem der Musikphilosoph Reger vor Tintorettos „Weißbärtigem Mann” im Kunsthistorischen Museum Wien heiligen Werte Österreichs angreift. Bernhards Stil der Übertreibung und des Hineinsteigerns ist sehr witzig ins Bild gesetzt. Ob diesem ersten Comic des Suhrkamp Verlags nun bald ein gezeichneter Hermann Hesse, Brecht, Adorno oder gar Habermas folgt (158 S., 16,99 Euro)?

Beim Münchner Knesebeck Verlag ist man den spielerischen Umgang mit Weltliteratur schon länger gewohnt. Hier gibt es „Moby Dick” als fragiles „Pop-up”-Meisterwerk, den „Tristam Shandy” als Graphic Novel und eben Marcel Proust. Zeichner Stéphane Heuet hat mit dem dritten Teil der hier jeweils 48-seitigen „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit” schon 1500 Seiten des Originaltextgebirges erklommen und atmosphärisch stimmig umgesetzt. Aber auch hier gilt: Die Kenntnis der „Recherche” erhöht den gezeichneten Genuss enorm (Knesebeck, je 19,99 ).

Hochkulturcomics sind also vor allem für Fans, die schon alles haben. Als Klassiker-Neuinszenierungen ähneln sie Literaturverfilmungen oder dramatisierten Romanen im Theater. Nietzsche-, Bernhard oder Proust-Leser können der ewigen Wiederkehr der gleichen Lektüre entfliehen, ihren Liebling in einem anderen Medium genießen und ein paar Tropfen der verruchten Popkultur nippen.

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