Wenn die Stunde schlägt
Ein existenzielles Drama: Im Residenz Theater inszenierte Dieter Dorn „Alkestis“ nach Euripides von Raoul Schrott
Mit rosigem Goldglanz übergießt die aufsteigende Sonnenscheibe das Königshaus, doch auf dessen Dach lauert schon der schwarzgeflügelte Todesdämon Thanatos: Heute muss Alkestis sterben. Mit einem starken Bild beginnt Dieter Dorns Inszenierung der „Alkestis“ nach Euripides von Raoul Schrott im Residenz Theater. In strenger Reduktion der Mittel auf das Wesentliche erzählen Dorn und sein Ensemble das archaische Märchen von Tod, Leid, Liebe und Freundschaft. Nach 120 spannenden Minuten heftiger, langanhaltender Premieren-Applaus.
Eine ungewöhnliche Gunst gewährt der Gott Apollon dem König Admetos: Er muss nicht zur ihm bestimmten Zeit sterben, wenn ein anderer für ihn in den Tod geht. Doch nicht einmal die alten Eltern des Admetos’ wollen sich opfern. Schließlich erklärt sich seine Frau Alkestis bereit, und heute schlägt ihre Stunde.
Luzide nachgedichtet
Ihr langer Abschied und das Jammern ihres Mannes über den Verlust, den er erleidet, werfen die essenziellen Fragen nach dem Verhältnis von Leben und Tod auf. Raoul Schrotts luzide, packende Euripides-Nachdichtung bewahrt in heutiger Sprache die große Form, sie spitzt zu und verschärft. Die Alkestis der Sibylle Canonica ist keine hingebungsvoll Liebende, sondern eine selbst- und pflichtbewusste Frau, die den Wert ihres Opfers kennt – und Forderungen stellt. Admetos dürfe nicht wieder heiraten, verlangt sie, und das nicht nur, um die Zukunft ihrer Kinder zu sichern: „Ich will die einzige sein – hörst du?“ Zwei Mal deuten ihre Worte an, dass die Ehe nicht die glücklichste ist. Canonicas Alkestis ist stark und bitter, aggressiv und hart durch Leiden.
Diese Stärke lässt Admetos, der an allem schuld ist, als fragwürdigen Egoisten erscheinen. Michael von Au spielt sein Klagen, dessen Ursache er nicht hinterfragt, ganz ohne weinerliches Selbstmitleid mit herrischer Schärfe. Der Kuss, den er Alkestis abringt, ist fast gewalttätig. Und im Streit mit seinem greisen Vater (Rudolf Wessely mit gewitzer Alterswürde), der ihm Feigheit vorwirft, fällt alle hemmende Höflichkeit. Die Wende zur Entwicklung und Einsicht Admetos’ bringt der Gast Herakles: Im Konflikt zwischen den Geboten der Trauer und der Gastfreundschaft siegt Admetos’ Respekt vor dem Leben. Herakles wird bewirtet und tanzt trinkend auf dem Dach: Felix Rech (zuvor ein goldglänzender Apollon) sprüht als Genussheld vor geschmeidiger Kraft und ironischem Witz – er ist der Absahner des Abends. Als ihn ein Diener (Shenja Lacher spielt auch den Thanatos) aufklärt, schreitet er zur rettenden Tat.
Zutiefst menschlich
Bühnenbildner Jürgen Rose stellt einen rostroten Kubus schräg in den Raum vor den Rundprospekt mit einer graugezeichnete Brandmauer, ein Laufsteg führt in der Mitte durchs Publikum. Hier treten drei reiche Bürger (Ulrich Beseler, Arnulf Schumacher, Helmut Stange) als Chor auf, hier verzaubert die Sängerin Sanni Orasmaa mit fremdartigen Klagemelodien das Ohr, hier bringt Herakles die dem Thanatos entrissene Alkestis zurück: Er stellt die Verschleierte als Fremde vor und bittet Admetos, sie aufzunehmen.
Der muss nun über seinen Schatten springen und sein Treue-Gelöbnis brechen, um mit der Gattin wieder sein Märchen-Glück zu finden: Michael von Aus Admetos ist da zu echtem Leid und Selbsterkenntnis gereift. Dieter Dorn hat kraftvoll und feinfühlig ein zutiefst menschliches, existenzielles Drama inszeniert.
Gabriella Lorenz
Residenz Theater, 1., 6., 11. und 23. Dezember, Tel. 2185 1940