Wenn das Leben illegal ist
"Oder, wie entweder oder“, so stellt sich die Regisseurin vor. Das Entweder ist vier Jahre her: Da entschied sich Nicole Oder fürs Theater. Sie stieg mit 30 Jahren bei der freien Berliner Theatergruppe Heimathafen Neukölln ein, gleich ihr zweites Projekt „Arab Boy“ wurde ein Riesenerfolg. Daraus entstand eine Bühnentrilogie über muslimische Jugendliche in Berlin, und für die Inszenierung „Arab Queen“ bekam Nicole Oder 2011 beim Festival „Radikal jung“ den Publikumspreis. Weil Intendant Christian Stückl sich da immer die interessantesten Jungregisseure ans Volkstheater holt, inszeniert die 33-Jährige nun ihre Romanadaption „Der falsche Inder“ in München. Heute ist Premiere.
Rasul Hamid ist ein junger Iraker, den wegen seines Aussehens alle für einen Inder halten. Was bei seiner Flucht vor dem Regime Saddam Husseins manchmal von Vorteil ist. Rasuls Odyssee durch Europa schildert Abbas Khider in seinem Roman „Der falsche Inder“. Der 1973 in Bagdad geborene Autor floh selbst 1996 aus dem Irak, schlug sich jahrelang als Illegaler durch und lebt heute in München. „Sein Roman ist autobiografisch geprägt, aber keine Autobiografie“, sagt Nicole Oder. Khider erzählt Rasuls Flucht-Odyssee in acht Kapiteln, jeweils aus anderer Perspektive. Oder macht daraus in ihrer Bühnenbearbeitung – in Absprache mit Khider – eine chronologische Geschichte.
Diskrepanz zur vielbeschworenen und toleranz-beschwörenden Libertas Bavariae
Den Stoff hatte sie schon länger in der Schublade. Und nach der Regie-Anfrage vom Volkstheater schien er ihr für München brisanter als für Berlin. Nicht nur, weil der Protagonist wie sein Autor in München strandet. Sondern auch, weil Bayern von allen Bundesländern mit Flüchtlingen am härtesten umgeht. Diese Diskrepanz zur vielbeschworenen und toleranz-beschwörenden Libertas Bavariae findet sie spannend. Der Rasul-Darsteller Sinan Al-Kuri, mit dem sie schon vier Mal gearbeitet hat, ist im Irak geboren, seine Eltern verließen das Land, als er drei war. Dass er mit der irakischen Kultur und Tradition vertraut war, war ihr wichtig. Alle anderen Rollen spielen im Wechsel Pascal Riedel und Stefan Ruppe.
Nicole Oder ist eine Quereinsteigerin: In Erlangen aufgewachsen, studierte sie Politik- und Theaterwissenschaft sowie Französisch. Einen Job als PR-Beraterin fürs Bundesfinanzministerium schmiss sie frustriert nach zwei Jahren hin, kuratierte dann eine große Ausstellung im Hamburger Zollmuseum. Als sie 2007 das Frauenkollektiv vom Heimathafen Neukölln kennenlernte, war das die Neuorientierung. Theater hatte sie in Schul- und Studentengruppen immer schon gespielt, hier fing sie mit Dramaturgie und eigenen Projekten an, heute gehört sie zum Leitungsteam. Ihre Inszenierungen „Arab Boy“ und „Arab Queen“ machten die freie Truppe überregional bekannt.
Neukölln hieß früher mal Rixdorf und war die sündige Rotlichtmeile von Berlin. Hier spielt seit 2007 das Theaterkollektiv Heimathafen Neukölln seine Mischung aus Volkstheatertradition mit Altberliner Possen und eigenen Projekten über die Integration muslimischer Migranten. Mit den letzteren ist Oder auf dem Sprung zu einer Regiekarriere im etablierten Theater. 2011 inszenierte sie am Staatstheater Kassel und in Senftenberg, jetzt am Volkstheater, es gibt weitere Anfragen. „Ich geh’ jetzt auf die Walz“, sagt sie lachend. Der Heimathafen Neukölln soll trotzdem ihr Heimathafen bleiben. „Ich hab’ ja nie Theater studiert und bin froh über dieses Modell: So lerne ich alle Bereiche von der Pike auf – bis zur Buchhaltung“, sagt sie.
Jetzt muss sie den Umgang mit den großen Apparaten von Stadt- und Staatstheatern lernen. Freies Theater sei einfach flexibler und beweglicher, sagt sie. Und die Schauspieler müssen sich erst an ihre kollektive Arbeitsweise gewöhnen. Denn für Nicole Oder sind Schauspieler keine Bausteine, „die ich hin- und herschiebe, sondern Impulsgeber“. Sie sieht Theater nicht in erster Linie als Kunst, sondern als gesellschaftliches Laboratorium. Und findet deshalb den Erfolgsdruck an großen Häusern belastend: „Wichtig ist doch, dass man auch scheitern kann und darf.“
Volkstheater, Kleine Bühne, 29.6. und Samstag 20 Uhr, Karten unter Tel.: 523 46 55
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