Wenn das Alte vergeht
Die erste Spielzeit des Residenztheaters unter der Intendanz von Martin Kušej neigt sich dem Ende zu. Noch einmal werden alle Kräfte mobilisiert. Während Michael Thalheimer noch bis Mitte Juni an Shakespeares „Sommernachtstraum” arbeitet, liegen Calixto Bieito und seine 12 Darsteller-Team bereits auf der Zielgerade: Der für gewagte Inszenierungen bekannte Katalane inszeniert Tschechows „Kirschgarten” mit Sophie von Kessel in der Rolle der Gutsherrin Ranewskaja.
AZ: Frau von Kessel, wie fühlen Sie sich nach einem Durchlauf vom „Kirschgarten”?
SOPHIE VON KESSEL: In erster Linie erschöpft. Sowohl die Figur als auch die Schauspielerin sind erschöpft. Insofern passt das.
Der Mann der Gutsherrin Ranewskaja stirbt, dann ertrinkt ihr Sohn, worau sie nach Paris mit einem Liebhaber zieht, ihr Geld verprasst und sich das Leben zu nehmen versucht. Mit diesem Ballast tritt sie auf die Bühne.
Wie können Sie sich auf diesen Einstieg vorbereiten?
Tja, das macht jeder anders. Man kann es mit einer Methode von Lee Strasberg versuchen, das heißt, man macht vorher „sense memory”. Man überlegt sich angesichts seiner eigenen Biographie, was wäre denn eine ähnliche Situation in meinem Leben, stellt sich das wirklich ganz klar in einer ganz entspannten Haltung vor, macht sich durchlässig, und dann reagiert der Körper emotional darauf.
Und machen Sie das zur Vorbereitung?
Ich benutze das beim Film immer wieder, beim Theater weniger. Beim Probenprozess haben wir natürlich immer daran gedacht, was sie für ein Leben schon hinter sich hat. Und wenn man Theater spielt, spannt man ja von Anfang bis Ende einen Bogen. Insofern kann ich mich da auch reinspielen.
Ihr Lebensweg war als Diplomatentochter verwinkelt, Sie wurden in Mexiko geboren, wuchsen in Lateinamerika und dem Resz der Welt auf. Im „Kirschgarten” ist Ranewskaja ganz entzückt, als sie in ihr altes Kinderzimmer tritt. Gibt es für Sie einen solchen Ort, der Nostalgie?
Nein. Alle drei Jahre kam ja immer wieder nicht nur eine andere Stadt, sondern auch eine andere Sprache, eine andere Kultur. Bis man die Sprache gesprochen und sich eingelebt, auch Freunde gefunden hatte, dauerte es Monate. So lange hatte ich meine Schwestern zum Spielen und meine Mutter als Kontaktperson. Wenn man jünger ist, geht’s schneller, sich einzuleben. Wenn die Pubertät kommt, wird's schwierig, weil man dann noch viel weniger andockt.
Es gibt also keinen Ort, an dem sie sich heimisch fühlen?
Also, das Geborgene, die Sicherheit von einem Kindheitsraum kenne ich nicht. Andererseits kenne ich auch nicht den Konflikt, der für viele mit Heimat verbunden ist.
Der „Kirschgarten” kann symbolisch gelesen werden für eine adlige Gesellschaft, die dem Untergang geweiht ist. Hat Calixto Bieito eine neue Deutung?
„Neu” – das kann ich so gar nicht sagen… Bei uns läuft viel über das Bühnenbild, eine Hausfassade, die immer weiter demontiert wird, bis nur noch eine Ruine da steht. Das ist Bieitos Ausgangspunkt: Das Alte vergeht, und ob das Neue besser oder überhaupt gut ist, weiß man nicht. So steht das aber auch im Stück.
Für ihn könnte als Katalane der Bezug zu einer wirtschaftlichen Krise ein anderer sein. Ist das zu spüren?
Also, ganz sicher. Er hat zudem ein ganz anderes Temperament. Ich möchte jetzt nicht die Klischees runterspulen und bin mir sicher, dass es auch weniger energetische Spanier gibt. Aber er ist nun mal so. Ich finde vor allem, dass er sehr positiv ist. Er hat immer so eine Zuversicht, ist immer aufbauend und wird nie laut. Bei uns kennt man ja oft das Grübeln, dagegen sagt man von den Südländern, dass sie offener und herzlicher sind. Das ist nun gerade eine spannende Mischung, wenn deutsche Schauspieler auf einen Katalanen treffen, weil es von den Temperamenten sehr unterschiedlich ist.
Im Stück meint Ranewskaja einmal: „Man sollte weniger ins Theater gehen und mehr auf sich selbst achtgeben.”
Ja, das denke ich auch jedes Mal. Dabei zeigt sich auch der Wandel der Zeit: Theater steht hier im Grunde für Kino heutzutage. Mit anderen Worten: Man sollte nicht die Zeit vergeuden mit kommerziellen Ablenkungen, sondern sich um die wirklich wichtigen Dinge kümmern.
Im Stück vernachlässigen die Figuren die wichtigen Dinge. Der Kirschgarten wird verkauft, und die Familie veranstaltet auf dem Gut indessen eine Party. Es gibt dieses melancholische laissez-faire…
Bei den "Drei Schwestern" von Tschechow findet man auch dieses Motiv: Dass sie nach Moskau wollen, aber es fährt keine dorthin. Die reden nur davon. Der Kirschgarten steht auch für so eine Sehnsucht. Aber wehe, die Sehnsucht erfüllt sich. Dann hat man sie nicht mehr.
Premiere heute, 19.30 Uhr im Residenztheater
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