Weltgeist aus Schwabing

Hans Magnus Enzensberger, der bekannteste und einflussreichste deutsche Autor im Ausland, wird heute 80 Jahre alt – gewohnt diskret und flüchtig, ohne öffentlichen Auftritt
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Hans Magnus Enzensberger, der bekannteste und einflussreichste deutsche Autor im Ausland, wird heute 80 Jahre alt – gewohnt diskret und flüchtig, ohne öffentlichen Auftritt

Es gibt für den Auftritt Hans Magnus Enzensbergers auf der Bühne des deutschen Geistes keinen anderen Vergleich als die Erinnerung an das Erscheinen von Heinrich Heine“, urteilte Alfred Andersch 1960. Da war Enzensberger, der drei Jahre zuvor die literarische Bühne mit dem Gedichtband „Verteidigung der Wölfe“ betreten hatte, schon das Junggenie der deutschen Literatur.

Ein halbes Jahrhundert später, als erfolgreicher Lyriker, Dramatiker, Kinderbuchbestseller, Essayist, Herausgeber und Übersetzer, sind ihm aus der Anfangszeit vor allem das spitzbübische Lächeln und die schwerelose Heiterkeit geblieben, mit welchen der im Ausland einflussreichste und bekannteste deutsche Intellektuelle alle stürmischen Debatten begleitet.

Polyglott

Im Januar erhält Enzensberger den renommierten dänischen Sonnig-Preis, weil er „als Dichter und Intellektueller mit Humor, Ironie und versteckter Wärme Nein zu sagen wagt“. Besonders hoben die Juroren „Ach Europa“ mit Reportagen aus den 1980er Jahren heraus. Vor sieben Jahren ehrten ihn die Spanier mit dem Prinz-von-Asturien-Preis.

Acht Sprachen spricht Enzensberger, seine Weltläufigkeit macht ihn für die heimische Kritik unfassbar. Dass er sich nie auf dogmatische Positionen festnageln ließ, verübelten dem 1929 in Kaufbeuren Geborenen vor allem Ende der 60er die Linken. In Wahrheit erlaubte ihm sein messerscharfer Verstand nicht, unhaltbare Positionen lange zu besetzen. Nicht Flatterhaftigkeit sondern Neugier ist sein bestimmender Wesenszug. Kein anderer deutscher Schriftsteller seiner Generation kann ein gleichsam über die verschiedensten Themengebiete verstreutes Oeuvre vorweisen.

Jörg Lau, der Enzensberger vor zehn Jahren zum 70. Geburtstag in eine Biografie zu zwingen versuchte, sieht die treibende Kraft in dessen wechselhaftem Leben in jenem Gefühl der apokalyptischen Erregung, das den 15-Jährigen im Herbst 1944 befällt, als er aus der Ferne betrachtet, wie Nürnberg im Bombenhagel der Alliierten untergeht und mit ihm das verhasste Nazi-Regime, die bürgerliche Enge, die gesellschaftlichen Normen.

Lieblingsthema Bewußtseinsindustrie

Während sich der älteste von vier Söhnen eines Oberpostdirektors und einer Kindergärtnerin als Schwarzhändler und Barmann durch die Besatzungszeit schmuggelt, sieht er bald um sich herum ein neues Land entstehen, in dem allzu schnell das Gras über die dunkle Geschichte zu wachsen scheint. Sein Zorn darüber ist in seinem Frühwerk überdeutlich.

Die Medien sind jung und mächtig, aber Enzensberger legt sich mit ihnen an. Er kritisiert die Sprache des „Spiegel“ und wird dort der höchstbezahlte Essayist. Er geht mit der „FAZ“ ins Gericht und analysiert das Fernsehen, die „Bild“ und den Quelle-Katalog. Seit Brecht hat sich niemand mehr mit der „Bewusstseinsindustrie“ intellektuell auseinandergesetzt, sie wird zu Enzensbergers Lieblingsthema und Spielplatz. Er wird Herausgeber von „Kursbuch“, später „Transatlantik“ und findet mit der „Anderen Bibliothek“ die Möglichkeit, die Bücher zu publizieren, die er entdeckt hat.

Heute feiert der seit drei Jahrzehnten in Schwabing lebende Autor seinen 80. Geburtstag.

Volker Isfort

Zum Geburtstag hat der Suhrkamp Verlag Enzensbergers Briefwechsel mit Uwe Johnson erstmals veröffentlicht (342 Seiten, 26.80 Euro) sowie die DVD-Box „Ich bin keiner von uns“ mit Filmen und Interviews und Enzensbergers gesammelte Essays „Über Literatur“ (924 Seiten, 25 Euro)

Enzensbergers bestechende Ironie – Leseproben aus fünf Jahrzehnten

Der zornige junge Mann

„Soll der Geier Vergißmeinnicht fressen?/ Was verlangt ihr vom Schakal, daß er sich häute, vom Wolf? Soll er sich selber ziehen die Zähne?/Was gefällt euch nicht an Politruks und an Päpsten, was guckt ihr blöd aus der Wäsche auf den verlogenen Bildschirm (....)/Gelobt sein die Räuber: ihr, einladend zur Vergewaltigung, werft euch aufs faule Bett des Gehorsams. Winselnd noch lügt ihr. Zerrissen wollt ihr werden.Ihr ändert die Welt nicht.“ (Aus dem Gedicht „Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer“, 1957)

Der Ironiker

"Daß wir gescheit sind, ist wahr. Aber weit entfernt, die Welt zu verändern, ziehen wir auf dem Podium Kaninchen aus unserem Gehirn, Kaninchen und Tauben, Schwärme von schneeweißen Tauben, die unverwandt auf die Bücher kacken.“ (Aus dem Gedicht „Fachschaft Philosophie“ in „Der Untergang der Titanic“, 1978)

Der Verständnisvolle

„Dagegen sieht sich unsere Friseuse einem lebenslänglichen Trommelfeuer von Informationen ausgesetzt. Schon im zartesten Vorschulalter machten sich die Pädagogen an ihr zu schaffen. Aber was ist ein Curriculum, verglichen mit dem Werbefernsehen! Was ist die Mittlere Reife, verglichen mit dem Horoskop, der täglichen Gesundheitsberatung, dem täglichen Verbrauchertip! Ich bin sicher, eine einzige Ausgabe der ,Bild’-Zeitung hätte genügt, um Johann Gottfried Herders Denkvermögen wochenlang mattzusetzen. Und trotzdem schafft es Zizi irgendwie, nicht verrückt zu werden. (...) Wenn sie auch noch die Leitartikel in der ,Frankfurter Allgemeinen Zeitung’ lesen und die Beschlüsse des SPD-Prateitags zur Kenntnis nehmen müßte, würde sie überschnappen.“ (Aus „Über die Ignoranz“, 1982)

Der Pädagoge

„Die öffentliche Schule ist von jeher das Hoheitsgebiet einer fernen Verwaltung gewesen, ein Ort der Unterdrückung, der weder von Schülern noch von Lehrern erdacht worden ist, und an dem beide noch nie das Sagen hatten. Ihre Bauten waren und sind Herrschaftsarchitektur. Früher glichen sie minderwertigen Kadettenanstalten, heute sehen sie wie Stammheim aus. Man merkt ihnen auf den ersten Blick an, daß sie, wie Irrenhäuser und Fürsorgeknäste, zur Aufbewahrung und zur Disziplinierung von Menschen errichtet worden sind. Zum Lernen sind diese in Beton gegossenen Technokratenträume vollkommen ungeeignet. Der Vandalismus der Kinder, der eine bewundernswerte Widerstandsenergie verrät, ist weiter nichts als ein unentwegter Versuch, diese gemeingefährlichen Umgebungen aus dem Weg zu räumen.“ (Aus „Plädoyer für den Hauslehrer“, 1982)

Der Fernsehverweigerer

„Das Fernsehen wird primär als eine wohldefinierte Methode zur genußreichen Gehirnwäsche eingesetzt; es dient der individuellen Hygiene, der Selbstmedikation. (...) Wenn unsere Konzentration ihr Maximum erreicht – das geht aus jedem esoterischen Taschenbuch einwandfrei hervor –, ist sie von Geistesabwesenheit nicht mehr zu unterscheiden, und umgekehrt: Die extremste Zerstreuung schlägt in hypnotische Versenkung um. So ließe sich auch die quasi-religiöse Verehrung, die das Nullmedium genießt, zwanglos erklären: Es stellt die technische Annäherung an das Nirwana dar. Das Fernsehen ist die buddhistische Maschine.“ (Aus „Das Nullmedium oder Warum alle Klagen über das Fernsehen gegenstandslos sind“, 1988)

Der Finanzexperte

„Was die Leute bieten, und was sie sich bieten lassen, das geht auf keine Kuhhaut. Ist es nicht einfach wunderbar, wie sich die Freude an Steuern und Abgaben in den letzten 100 Jahren vermehrt hat? Noch im Jahr 1891 nahm der preußische Staat jedem Bürger einen Anfangssatz von 0,62 Prozent ab, und wer mehr als hunderttausend Goldmark verdiente, zahlte eine Spitzensteuer von genau 4 Prozent. Seitdem hat die Selbstlosigkeit der Bürger enorme Fortschritte gemacht. Heutzutage sind die Deutschen bei einer Staatsquote von 48 Prozent angelangt, und genau 41,6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes werden für Steuern und Sozialabgaben erlegt. Daß ein beachtlicher Teil dieser Gelder zum Fenster hinausgeworfen wird, stört die wenigsten.“ (Aus „Über die Gutmütigkeit“, 1998)

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