Was man nicht mit den Augen sieht

Uraufführung in der Spielhalle der Kammerspiele: Mit „Dunkelkammer” setzte Dries Verhoeven sechs Blinde in Szene, die verblüffende Einsichten in die Konstruktion menschlicher Wahrnehmung geben
Mathias Hejny |
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Theater ohne Licht? Dunkel erinnert man sich an die Uraufführung von „Der Ignorant und der Wahnsinnige”, die Thomas Bernhard 1972 verbot, weil die Behörden zuvor seine Forderung nach „völliger Finsternis” nicht erfüllen wollte. Anders als der wortreich grantelnde Österreicher findet der sanfte Niederländer Dries Verhoeven einen Weg, um einerseits feuerpolizeilichen Bestimmungen gerecht zu werden und andererseits eine zumindest fast totale Dunkelheit herzustellen: Für den Brandfall weisen mit fluoreszierender Farbe großformatig hingepinselte Buchstaben hauchfein glimmend den „Exit” aus der Spielhalle der Kammerspiele.

In der Performance „Dunkelkammer” geht es nicht metaphorisch um die Blindheit einer Gesellschaft, sondern ganz physiologisch um das Fehlen von Augenlicht. Das ist kein Theater über das Nicht-sehen-können, denn Verhoeven misstraut Schauspielern grundsätzlich. Ihre professionelle Schauspielkunst, so fürchtet der Bühnenbildner und Theaterperformer, könnte die Wahrheit hinter virtuoser Attitüde unsichtbar machen.

Im Kopfkino gehen die Lampen an

Gewissermaßen sehenden Auges geht der 35-jährige Amsterdamer mit dem Einsatz von sechs blinden Amateurschauspielern das Risiko einer gut gemeinten Freakshow ein. Er gewinnt das riskante Spiel: So diskret die Notbeleuchtung an der Wahrnehmungsgrenze bleibt, führen etwa die 73-jährige Pianistin Livia Hofmann-Buoni oder der marokkanische Tänzer Said Gharbi nicht einfach einer gnädig staunenden Publikum ihre Kunststücke vor, sondern zünden liebevoll und mit viel Rücksicht auf die groben Empfindungen der Sehenden die Lampen in den Kopfkinos der Zuschauer an.

Eine 360-Grad-Projektion überträgt fast live von einem Spaziergang zweier Blinder (Manuela Schemm, Bernhard Claus) vom Hofgarten über die Maximilianstraße bis in die „Dunkelkammer”. Ihre verblüffenden Ein-Sichten von dem, was sie hören, riechen und imaginieren, was ihnen die Sehenden mitteilen, geben eine eindrückliche Vorstellung davon, dass menschliche Wahrnehmung mehr ist als die Summe dessen, was die Sinne empfangen. So weit sensibilisiert wird dem Betrachter zwischen Dämmerung und völliger Dunkelheit sogar ein Striptease zu einer zarten, keuschen Sensation.

Kammerspiele (Spielhalle), heute, morgen, 9., 10., 14., 15., 16., 19. bis 22., 25. bis 27. Oktober 2011, 19.30 Uhr, Tel.23396600

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