Kritik

Von Müttern und Töchtern

Annette Paulmann mit "Fünf bis sechs Semmeln und eine kalte Wurst" im Werkraum
Anne Fritsch |
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Annette Paulmann spielt alle Rollen, auch die auf der Leinwand.
Judith Buss Annette Paulmann spielt alle Rollen, auch die auf der Leinwand.

Als Lena Christ acht Jahre alt war, zog sie von ihren Großeltern in Glonn nach München zu ihrer Mutter. Diese hatte inzwischen geheiratet, das Mädchen musste in der elterlichen Wirtschaft mitarbeiten und wurde von ihrer Mutter regelmäßig misshandelt. In ihrem Debütwerk "Erinnerungen einer Überflüssigen" verarbeitete die bayerische Schriftstellerin ihr hartes Leben literarisch. Es ist ein bewegendes Buch, das unfassbares Leid in eine unaufgeregte Sprache fasst.

Ausgehend von diesem Buch hat die Schauspielerin Annette Paulmann nun einen Abend an den Kammerspielen entwickelt, den sie nicht nur alleine spielt, sondern bei dem sie auch - erstmals - selbst Regie geführt hat. Paulmann, deren Eltern ein Wirtshaus in Ertinghausen auf dem Solling führten, verknüpft Texte von Lena Christ mit eigenen. "Fünf bis sechs Semmeln und eine kalte Wurst - Von Wirtstöchtern und ihren Müttern" heißt der Abend, der jetzt im Werkraum Premiere hatte. Und der, soviel sei schon jetzt verraten, ein ganz großartiger ist!

Zu Beginn sieht man, projiziert auf einen weißen Vorhang, Porträts von Annette Paulmann. Mal mit Schnauzbart, mal mit Blumenkranz, mal als Frau, mal als Mann, mit Glatze oder Hochsteckfrisur, in bäuerlicher Tracht oder Arbeitskleidung. Mal lächelt sie, mal blickt sie finster drein. Ein Panoptikum der Figuren im Kosmos der Lena Christ, ein Ausblick auf die Wandlungsfähigkeit der Annette Paulmann. Dann tritt sie in den beinahe leeren Raum, in einem grauen Kleid im Stil des anbrechenden 20. Jahrhunderts, die Haare hochgesteckt. Mit ruhiger Stimme erzählt sie, wie Lena Christ zu ihrer Mutter zog, welches Leben sie dort in der Stadt erwartete. All den Lokalkolorit, der den Roman von Lena Christ prägt, hat Paulmann gestrichen, ihr geht es um die Beziehung der Tochter zur Mutter. Dass diese nicht bayernspezifisch ist, zeigen die Parallelen zu ihrer eigener Biographie.

Sie springt in ihren Erzählungen hin und her zwischen diesen beiden Leben, die zeitweise beinahe zu einem verschwimmen. Die Ausbeutung der Töchter als kostenlose Arbeitskräfte, die Gewalt der Mütter, die Schläge, die Demütigungen, "dieses Kleinhalten" der Töchter.

Eine gnadenlose Umgebung, in der Fehler nicht toleriert, sondern hart bestraft wurden. "Geliebt hat mich meine Mutter nie", sagt sie einmal mit den Worten von Lena Christ. Und in ihrem Blick scheint ein großer Schmerz auf. In den Videos, die immer mal wieder auf die Rückwand projiziert werden, sieht das Publikum eine doppelte Annette Paulmann, ein doppeltes Schicksal.

Mal schauen die beiden Frauen, die irgendwie eine sind, in die Berge, mal sitzen sie vor einer Hütte. Im Laufe des Abends verwandelt sie sich zunehmend von Lena Christ in Annette Paulmann, legt erst die Perücke ab, dann das Kleid. Ein Höhepunkt ist sicher, wenn Paulmann in der ihr eigenen Trockenheit berichtet, wie der Vater von Lena Christs Stiefvater es in seinem Leben auf 14 Ehefrauen und 39 Kinder brachte. Im Hintergrund ein Video, auf dem man vielleicht eben diesen Frauenhelden sieht: ein dicker Mann sitzt, ausstaffiert mit Lodenjacke, Schnauzbart und Gamsbart am Hut, in einem Wirtshaus, trinkt Bier, isst Breze und Weißwurst (Natürlich gespielt von Annette Paulmann, wem sonst?). Während sie also im Vordergrund berichtet, woran eine Frau nach der anderen starb, übt sie sich im Hintergrund in einer famosen Charakterstudie der bayerischen Art.

Annette Paulmann verharrt nicht im Schmerz, berichtet auch von friedlichen Momenten, wenn Lena Christ alleine im Wirtshaus die titelgebenden Semmeln und die Wurst aß, wenn die Eltern außer Haus waren. Oder von der glücklichen Zeit, die sie bei ihren Großeltern hatte. Eine Projektion bringt nun Farbe und Gemütlichkeit in den Raum, materialisiert eine dreidimensionale Version von van Goghs "Schlafzimmer in Arles". Auch in Paulmanns eigener Kindheit gab es freilich schöne und komische Situationen. Wie sie mit dem abgelegten Fahrrad ihres Bruders in die Natur floh. Wie ihre Oma immer am Stammtisch saß und anhand der Vorwahlnummern in den Inseraten für Landmaschinen versuchte herauszufinden, welcher Bauer da gerade seinen Hof aufgab. Gelang ihr das nicht, bat sie Annette, mit verstellter Stimme anzurufen und nachzufragen, wo genau der Miststreuer oder die Ballenpresse denn abzuholen wäre.

Obwohl das Thema kein besonders lustiges ist, schafft Annette Paulmann es immer wieder, einem ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Weil sie eine unglaublich gute Beobachterin ist, weil sie ihren Humor bewahrt und im Gegensatz zu Lena Christ einen Ausweg gefunden hat aus der Wirtshaushölle. Nie kippt sie ins Verbitterte, gekonnt balanciert sie die Stimmungen und Schwingungen aus, arbeitet Parallelen der Biografien heraus, aber auch Unterschiede. So hatte sie das Glück, ihrer Mutter später noch einmal zu begegnen, eine andere Seite dieser Frau kennenzulernen. Während Lena Christ ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt hat, tanzt Annette Paulmann am Ende ausgelassen durch den Raum.

Dieser Abend macht Lust, mehr von Lena Christ zu lesen - und vor allem: wieder mehr Annette Paulmann auf den Bühnen der Kammerspiele zu sehen. Glücklich ein Theater, das so eine Schauspielerin (und Regisseurin!) in seinem Ensemble hat!

Werkraum Kammerspiele, wieder am 13. und 15. Oktober

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