Von den letzten Dingen erzählen
Ivo Pogorelich verlangsamte Tschaikowskys Klavierkonzert Nr. 1 und stellte gegen die Konvention den romantischen Charakter wieder her
Es kommt nicht alle Tage vor, dass während der Pause im Publikum über das eben Gehörte heftig gestritten wird: War das nicht Willkür, was Ivo Pogorelich bei Tschaikowskys Klavierkonzert Nr. 1 anstellte? Oder präpariert er durch Zuspitzung für unsere gegenwärtigen Ohren heraus, was der Komponist seiner Ansicht nach gemeint hat?
Pogorelich spielte einige seiner Soli extrem langsam, das stimmt. Aber es macht musikalisch Sinn: Tschaikowsky wird so vor jener zirkushaften Theatralik bewahrt, die feinere Gemüter oft abstößt. Schon in den ersten Takten, wenn das Klavier mit ehernen Schlägen den Gesang der Streicher herausmeißelt, betonte das zurückhaltende Tempo den tragischen Ernst ganz unmissverständlich. Am Beginn der Durchführung brachte Pogorelich in einer unbegleiteten Passage die Musik fast zum Verstummen. Die Philharmonie lauschte hochkonzentriert, weil die Spannung nie abriss. Dann steigerte sich Pogorelich in eine gewaltige Konfrontation mit dem Orchester hinein. Wer sich darauf hörend einließ, wird den Moment nie vergessen. Es ging um Leben und Tod, um die letzten Dinge.
Hinreißend
Später schwankte das Klavier zwischen überdrehter Heiterkeit und verzweifelter Melancholie. Genau davon erzählt Tschaikowskys Musik, die in dieser Aufführung exzentrisch zu sich selbst kam. Dass Pogorelich nach Noten spielt, macht augenfällig, dass er reflektiert vorgeht und nicht bloßen Launen folgt. Pianistisch ist der 52-Jährige in der Form seines Lebens: Die heikle Stelle kurz vor Schluss, in der viele Kollegen vom Orchester übertönt werden, war in dieser Aufführung ein glanzvoll strahlender Höhepunkt. Wer sonst verfügt über eine so sensible, triumphierende Kraft?
Danach legte das Philharmonia Orchestra unter Tugan Sokhiev eine hinreißende Aufführung der Symphonie Nr. 2 von Sergej Rachmaninow hin, die auf wattiertes Wehleid verzichtete und eine überraschende Nachbarschaft zu den flächigen Klängen von Jean Sibelius herauspräparierte. Da gab’s dann gar nichts mehr zu streiten: Es war exzellent.
Robert Braunmüller