Vom Wahnsinn des Lebens

Statt einer durchgehenden Handlung surreale, sentimentale und pathetische Aktionen: Pippo Delbonos „Erpressung” kreist im Residenztheater die Themen Angst und Machtmissbrauch ein
von  Gabriella Lorenz

Statt einer durchgehenden Handlung surreale, sentimentale und pathetische Aktionen: Pippo Delbonos „Erpressung” kreist im Residenztheater
die Themen Angst und Machtmissbrauch ein

Eine adrette Dame führt nach einem Handbuch vor, wie frau stets perfekte Haltung bewahrt. Ein Blockflötenlehrer traktiert seinen Schüler mit Wiederholungen – und schreit zwischen sachlichen Anweisungen wüste Beschimpfungen.

Mit starken Bildern beginnt die Inszenierung „Erpressung” von Pippo Delbono im Residenztheater, und hält zwei Stunden in einer durchchoreografierten Collage die Spannung. Obwohl das Thema „Erpressung” so weit gefasst ist, dass es eher ein Abend über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Liebe ist als über die hässlichen Nötigungen des Alltags, die der italienische Regisseur mit seinen Schauspielern recherchiert hat. Bei der Premiere gab’s Bravos und Buhs für das Experiment.

Die Schauspieler tragen die Aufführung

Delbono, der in Italien seit 25 Jahren eine eigene Kompanie hat, inszenierte zum ersten Mal in Deutschland und zum ersten Mal nicht mit seinen eigenen Schauspielern. Aber das Team vom Resi ließ sich ein auf ihn und seine ungewöhnliche Arbeitsweise – und emotional einlassen sollte sich auch der Zuschauer. Denn eine Handlung gibt es nicht, dafür viele überzeugende, auch surreale, pathetische oder sentimentale Situationen, die das Thema „Erpressung” umkreisen.

Sonst spielt Delbono stets selbst mit bei seinen Inszenierungen, hier ist er als Großvideo und italienische Stimme präsent, stellt sich als Regisseur vor, kommentiert sein Verhältnis zu Deutschland und rezitiert ein großes Poem über die Liebe. Auch sein italienischer Protagonist Bobò, ein 75-jähriger Taubstummer, ist im Film als Besucher im KZ Dachau zu sehen.
Aber die Aufführung tragen die Schauspieler. Ein schmieriger Moderator (Arthur Klemt) führt mit peinlichen, rassistischen Witzen erstmal auf die falsche Fährte eines italienischen Unterhaltungsabends. Doch tagespolitisch hört man weder etwas über Berlusconi noch über Christian Wulff. Politik spielt allenfalls eine Rolle in der Aufarbeitung deutscher Nazi-Vergangenheit. Da ist Delbono jedoch nicht auf dem aktuellen Stand.

Das Perfide kommt mit Schumanns Mai-Wonnen daher

Doch auf der kaltgrauen Bühne (Anneliese Neudecker), deren trichterförmige Verengung sich durch sechs Wandabschottungen öffnet oder schließt, findet er berührend-iirritierende Bilder. Eine elegante Mutter (Dascha Poisel) bügelt ihre Tochter (Marie Seiser) in Form, ein Couch-Potato (Gunther Eckes) bewirft einen Kinderschänder, der sich stumm mit einem Schild outet, mit seinem Fußball. Zwei nackte Männer streiten auf Distanz über Lerche und Nachtigall, beim Familienfest werden Geschenke nach Geldwert gelistet. Guntram Brattia deklamiert die Rede des St. Just aus Büchners „Dantons Tod”, ein getrenntes Paar droht mit Kindesentzug und Selbstmord, Generäle finden sich zum Tanz. Wolfram Rupperti, Robert Niemann und Jürgen Stössinger ergänzen eine Familientafel der Erpressten, ein Offizier führt geplättetes Herbstlaub auf dem Rücken einer Kriechenden spazieren, der er Salomos Hohelied deklamiert.

Leitmotivisch wird das von Schumanns Lied „Im wunderschönen Monat Mai” durchzogen, dazwischen funken auch Punk von Nina Hagen, der Schlager „That’s amore” oder Melodien von Alexander Balanescu. Angst, Machtmissbrauch und Verlogenheit im weitesten Sinne prägen die Stimmungen des spannenden Abends.

Wieder am 17., 23., 25. Jan., 1. 10., 18., 20., 27. Feb., Tel. 2185- 1940, www. residenztheater.de

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.