Vom Kino-Tod in Venedig

Das älteste Filmfestival der Welt in der Stadt, die sich selbst als "Serenissima" - also ehrwürdigste - bezeichnet, droht an Konservativität zu ersticken: "Maestro" ist so ein Beispiel. Nicht etwa, weil es um die Lebensgeschichte von Leonard Bernstein (1918 bis 1990) ginge. Die ist von Regisseur Bradley Cooper, der auch den Dirigenten spielt, in schönem Schwarzweiß durchaus meisterhaft in Szenen gesetzt. Selbst am Pult schlägt sich Cooper gut, wenn er dem Orchester die Musik enthusiastisch einpeitschen will.
Tauchen dann im Abspann Martin Scorsese und Steven Spielberg als Produzenten auf, ist klar: Hier geht es nicht um Neues, sondern um die Selbstvergewisserung der amerikanischen Kinowelt. Und damit auch nichts verstört, ist vieles ausgeblendet: Bernsteins Bisexualität wird jugendfrei behandelt, und Ehefrau Felicia Montealegre (Carey Mulligan), selbst Künstlerin, bleibt letztlich die Liebende, Duldende, um sein Künstlertum nicht bei der Entfaltung zu hemmen. So kann man ungestört in Gustav Mahlers "Adagio" schwelgen und den schönen Kino-Tod in Venedig erleiden.
Warum jeder zum Killer werden kann? Das bleibt offen
"Adagio" hieß dann auch gleich der sanft dystopische italienische Wettbewerbsbeitrag, der in einem klimakatastrophal ausgedörrten Italien spielt. Der Film zeigt eine Gangstergeschichte im prekären Milieu Roms um einen Jungen, der in eine große Erpressungsgeschichte hineingerät. Aber das alles lässt einen völlig kalt. Genauso wenig ist die härtere Hollywoodvariante in Form eines Thrillers von Altmeister David Fincher ("Fight Club") eine Offenbarung.
Da erklärt der deutsch-irische Schauspieler Michael Fassbender in einem inneren Monolog aus dem Off die Psychologie eines "Killers". Die These: Jeder von uns kann einer sein! Aber woher eine extreme Empathielosigkeit kommt, die jedenfalls Voraussetzung für geschäftsmäßiges Töten ist, kann der Film nicht herleiten. Bei aller Perfektion und genialem Sounddesign erzeugt das eine große Leerstelle.
Einziger Deutscher im Wettbewerb ist Regisseur Timm Kröger, Jahrgang 1985. In "Die Theorie von allem" spielen Hanns Zischler und Gottfried Breitfuss zwei verfeindete Wissenschaftler und Jan Bülow einen Doktoranden. Sie sind zu einem Quantenphysik-Kongress in die Schweizer Alpen gekommen, zu einem bahnbrechenden Vortrag eines indischen Außenseiters. Der taucht aber nie auf, so dass eine Woche lang "Zauberberg"-Atmosphäre aufkommt. In Schwarzweiß. Und als unerklärliche Zeitverschiebungen und Tote auftauchen, wird das Ganze zu einer Mischung aus Dürrenmatt und Hitchcock. Vielen gilt der Film als die Entdeckung eines deutschen Regietalents. Nur ist die komplexe Geschichte - und Kröger hat auch am Drehbuch mitgeschrieben - nur wenig verständlich erzählt.
Daran scheitert auch der stark beklatschte französische Beitrag mit Léa Seydoux: "La Bete - das Biest" erzählt in Zeitloops von 1910 bis 2044 die Geschichte einer Frau und eines Mannes (George MacKay), die sich in verschiedenen Leben wiederbegegnen, aber nicht zusammenkommen. Regisseur Bertrand Bonello hat hier wenigstens eine Frau ins Zentrum gerückt, aber sie verlässt ihren Ehemann nicht rechtzeitig, ist in der Zukunft (2044) kurz davor, der Verführung zu erliegen und negative Erinnerungen auf ihrer DNA löschen zu lassen. Freilich mit der Gefahr, die Gefühllosigkeit, aber auch das Glücksempfinden zu steigern.
Wiedergeburt, psychedelische Eingriffe, technische Glücksversprechen inklusive Schönheitschirurgie - all das ist zu einem großen spannenden Reigen verbunden, der sich aber nie schließt und auch stilistisch rätselhaft bleibt.
Polanski serviert ein heiter-böses Spiel zur Klassenfrage
Bei soviel Schwere war dann "The Palace" des 90-jährigen Roman Polanski, der selbst nicht am Lido erschien, ein heiter-böses Spiel über die Klassenfrage. Und die hat wieder zurück in die Schweizer Berge geführt, auch in eine Art "Zauberberg", frei nach dem Motto: "Wir da oben, ihr da unten".
Denn in der Luxusherberge "The Palace" residieren die Oberen Zehntausend. Vor der Kulisse der verschneiten Berge erwartet die Gäste eine opulente Silvesterfeier, um das Jahr 2000 gebührend zu begrüßen. Aber Nichts läuft nach Plan. In der Küche wird gebrutzelt, Kaviar gibt es in Riesenschüsseln, der Champagner fließt in Strömen. Das Personal steht bereit, alle Wünsche zu erfüllen: Das reicht vom Kunstrasen für einen Hund, der sein Geschäft sonst im Bett erledigt, über russische Oligarchen, die einen Bunker für ihre Geldkoffer fordern bis zum Bankrotteur, der ein Upgrading verlangt.
Im Chaos regiert der Hotelmanager und versucht den großen Eklat zu verhindern. Oliver Masucci spielt diesen Gästedompteur großartig. Ein netter Unterhaltungsfilm mit ein paar platten Ausrutschern. Als Abschluss einer großen Regiekarriere eigentlich zu schade. Weder in Frankreich noch in den USA hat der Film bisher einen Verleih gefunden, Polanski bleibt heikel.