Volkes gerechte Stimme
Zischende Fritteusen, schleichende Autos, ein umjubeltes Geburtstagskind und ein ausgebuhter Intendant: München feiert „Oper für alle“ miteiner sehr emotionalen „Tosca“
Im nächtlichen Lichtkegel oben auf den Stufen reißt er seine Arme faustgeballt in die Höhe wie ein Ringer nach dem Sieg. Es ist ein Sieg! Karita Mattila, die Tosca des Abends, entreißt dem wortkargen Intendanten Bachler das Mikrofon, jubelt: „Der Jonas hat heute auch noch Geburtstag!“ – und beginnt ein Massen-„Happy-Birthday“ auf dem überfüllten Max-Joseph-Platz zu dirigieren. Das endet in einem wunderbar kakophonen Pseudokanon, den Tausende Zuschauer, die – befreit von Absperrungsgittern – nach vorne drängen, schon zuvor spontan begonnen hatten. Luftballons steigen in den Nachthimmel, es ist elf Uhr nachts und immer noch wunderbar warm.
Dusche für den Intendanten
Eine kalte Dusche aber hatte schon vor Beginn der Intendant einstecken müssen, als er in der Abendsonne die Freiluftgäste begrüßen wollte: Ein Buhgewitter brandet auf! Das Münchner Publikum verzeiht Bachler den Umgang mit Kent Nagano nicht. Das bekommt sogar noch der unschuldige Dirigent Fabio Luisi als Nicht-Nagano des Abends zu spüren, der beim ersten Verbeugungs-Vorhang auch Demonstrations-Buhs auf dem Platz erntet: Nagano wird vermisst. Aber das „Oper-für-alle“-Publikum ist wunderbar gerecht: Beim zweiten Vorhang jubelt man ihm wieder zu – diesmal für die Leistung des Abends.
Bei soviel differenziertem Sachverstand war die Live-Moderation von Arte-Moderator Andreas Kern im Stile von „Willi-will’s-wissen“ peinlich. So ließ Bachler auch Kerns Dauergeduze und dessen nassforsche Art ins Leere laufen, mit Abblitz-Sätzen wie: „Da liegen Sie nicht richtig!“
Wie begeistert das Münchner Publikum das Open-Air-Bildschirm-Opernereignis annimmt, zeigt die hohe Leidensbereitschaft. Schon weit mehr als eine Stunde vor Beginn campieren die Fans und harren ohne Rückenlehne weitere Stunden auf dem Kieselstein-Pflaster aus. Wenige privilegierte Logenplätze bietet das gegenüberliegende Spatenhaus im ersten Stock, fünf Sperrsitze das Trambahnhäusl der Linie 19.
Oliven und Parmesan zu Puccini
Und erstmals sieht man im Viertelrund auch Biertisch-Garnituren, an denen bourgeoise Damen zu den Imbiss-Pommes auch mal einen Champagner schlürfen.
Man kann den Platz in konzentrische Kreise der Disziplin einteilen. Vor dem Bildschirm sitzt gedrängt studentisch bis ergrautes Opern-Enthusiasten-Publikum, hier findet man sogar Bachchor-Leiter Hansjörg Albrecht. Ab der Mitte campierten dann mehr die interessierten Schaulustigen – oft mit zu Puccini passender italianisierter Oliven-Parmesan-Picknick-Ausrüstung und nicht gerade klassik-konzerttauglicher Handy-Bereitschaft zum Herbeilotsen der vielen Spätkommer. Im immer noch vollen Außenbereich herrschte dann alternativer Volksfestcharakter. Da zischte dann auch die Catering-Fritteuse ausgerechnet beim Nach-Scarpia-Mord-Pianissimo, Mütter stillen Babys, die auch mal übermüdet über den Platz quäken.
Auffallend niedertourig-diskret hingegen versuchen die Autofahrer sich aus der Tiefgaragen-Ausfahrt über den Platz herauszuwinden. Und die umgebende Fußgängerzone ist zum riesigen Radlparkplatz umfunktioniert. Ein typisch Münchnerisches Gesamtkunstwerk kultivierter Toleranz.
Adrian Prechtel