Vladimir Jurowski dirigiert der gelbe klang

Der Musikchef der Bayerischen Staatsoper leitet ein Münchner Ensemble für Neue Musik in Schwere Reiter
Voller Energie für das Neue: Vladimir Jurowski, die Sopranistin Alexandra Lubchansky und der Akkordeonist Filiip Eraković im Schwere Reiter.
Voller Energie für das Neue: Vladimir Jurowski, die Sopranistin Alexandra Lubchansky und der Akkordeonist Filiip Eraković im Schwere Reiter. © Ralf Dombrowski

Bayerische Generalmusikdirektoren thronen üblicherweise im Tempel am Max-Joseph-Platz, den sie höchstens einmal pro Jahr bei "Oper für alle" verlassen. Vladimir Jurowski scheint entschlossen, es anders zu machen: Er hat seit seinem Amtsantritt im Künstlerhaus den Nachwuchs bei "Stars & Rising Stars" am Klavier begleitet und ließ sich auch schon als Kammermusiker und Walzerkönig im Bergson Pop-Up-Store am Marienplatz hören. Und bald leitet er den Bach-Chor im Liebfrauendom.

Großes Interesse an Neuer Musik

Im Schwere Reiter dirigierte Jurowski nun das auf Neue Musik spezialisierte Ensemble der gelbe klang. Wer die vielen zeitgenössischen Partituren in seinem Amtszimmer gesehen hat, den wird das nicht überraschen. Auf dem Programm standen kurze Werke osteuropäischer Komponisten. Das lockte vor allem die russische Exil-Bubble Münchens an, die ihre nach Mottenkugeln duftenden Winterpelze auslüftete.

Die Musik überraschte durch die strikte Abwesenheit postmoderner und folkloristischer Elemente. Auch das Spirituelle der slawischen Seele, bei postsowjetischen Komponistinnen und Komponisten nicht unbeliebt, fehlte gänzlich. Stattdessen regierte ein strikter westlicher Avantgarde-Sound der Schule von Edison Denissow, der in den 1970er Jahren zum Unwillen der Kulturfunktionäre Kontakte mit Pierre Boulez pflegte und in Paris starb.

Avantgarde aus Osteuropa

Denissows Kammersinfonie Nr. 2 erklang vor der Pause: ein sehr dichtes, lautes und schnelles Stück, dessen Strukturen beim ersten Hören undurchschaubar bleiben und das merkwürdig triumphal endet, als habe den Komponist ein Telegramm aus dem Kreml ereilt, sich gefälligst an die Regeln des sozialistischen Realismus zu halten. Jurowski scheint von der Qualität dieser Musik überzeugt: Er hob beim Applaus die Partitur ehrend in die Höhe.

Olga Bochikhinas "Unter der Kuppel hervor" (2009) steigerte ein rhythmisches Motiv in einer sehr schroffen Anverwandlung minimalistischer Tendenzen. Anton Safronov vertonte zwei Texte von Majakowski: den einen exaltiert, den anderen elegisch. "Aria tutti" von Boris Filanovski stellte die Posaune solistisch heraus.

Ensemblemusik bleibt interessant

Die "Projections" des aus Aserbaidschan stammenden Said Gani setzte auf geräuschhafte Spielweise und das Zerknüllen von Notenpapier. Den stärksten Eindruck hinterließ das im Raum verteilte Bläserquintett von Agata Zubel, bei dem das Horn mit aller Ruhe auf nervöse Holzbläser-Attacken reagiert, ehe dann ein Motiv gemeinsam umgefärbt wird.

Den Schluss bildete ein Vokalwerk des Denissow-Schülers Vladmir Tarnopolski: "Chevengur" nach kommunistischer Aufbau-Prosa von Andrei Platonov, die primär in Laute zerlegt war (Solistin: Alexandra Lubchansky). Der Schluss streifte mit Hilfe eines Akkordeons die Sphäre des linken Kampflieds. Aber das war auch schon die einzige Konzession an die Gefälligkeit an diesem durchweg überraschenden, aber auch etwas dogmatischen Abend, der wieder einmal zeigte, dass sich das Interessanteste der Gegenwart jenseits der Orchestermusik in Werken für flexible Ensembles mit solistischen Streichern und Bläsern abspielt.

Die Blase durchstoßen

Eine aufgeschlossene ältere Dame fragte, wer wohl der ihr unbekannte Dirigent sei. Der neue Musikchef der Bayerischen Staatsoper, wurde sie von ihrer Begleitung aufgeklärt, über den man viel Gutes höre. Genaues wisse sie aber nicht, weil sie nie ins Nationaltheater gehe. Was beweist, dass Jurowskis Versuch, die verschiedenen Klassik-Blasen zu durchstoßen, mehr als notwendig ist.

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