Viktor & Rolf: Was kratzt uns die Mode?
Die Finanzkrise hat kapitale Löcher in die aufgebauschten Ballkleider gefräst. Mit Nadel und Faden ist bei diesen Einschnitten nichts mehr auszurichten. Und dann gibt es noch ein bewusst zur Schau gestelltes Upcycling, also das Verarbeiten bereits vorhandener Kreationen, von Vintage-Materialien und Stoffproben. Zwischendurch mit goldenem Lurexband zusammengefasst, wie die Japaner zerbrochenes Porzellan mit golddurchmischter Spachtelmasse reparieren. Das sind auch schon die größten Zugeständnisse an den Zeitgeist. Viktor & Rolf haben keine Lust, mit der Mode zu gehen. Ausgerechnet.
Aber genau diese Weigerung, auf aktuellen Wellen zu reiten und sich an angesagten Farben und Schnitten zu orientieren, ließ die Niederländer zur Marke werden. Und wo sich in plastischen Lettern ein riesiges "NO" aus dem schmalen Mantel erhebt, stecken Viktor & Rolf dahinter. Ob das dann passt, steht auf einem anderen Blatt. Die Idee sei nicht das Tragbare, erklärt Viktor Horsting mit einem verbindlichen Lächeln - und ist sich nicht nur in dieser Hinsicht mit seinem Label-Partner Rolf Snoeren völlig einig.

"Schwerkraft? Ist da, um ausgehebelt zu werden"
Ganz so cool wie sich die zwei Absolventen der Kunst- und Designakademie Arnheim auf Fotos geben, sind sie dann doch nicht. Im Gegenteil. Lässiger geht es kaum in der von Eitelkeit und Egozentrik dominierten Branche. Zumal den Fashion Artists, wie sie sich nennen, in der Kunsthalle München eine höchst aufwendige Retrospektive ausgerichtet ist. Die erste umfassende überhaupt, zudem kongenial wie pointiert von Thierry-Maxime Loriot und Franziska Stöhr kuratiert.
Das ändert freilich nichts an einer fundamentalen Renitenz. Die Schwerkraft? Ist da, um ausgehebelt zu werden. Deshalb beginnt die Ausstellung mit einer Robe, die kopfüber steht. Kein Saum fällt nach unten, die Falten ragen steil nach oben, und man muss für einen Moment an Georg Baselitz denken, der 1969, just im Geburtsjahr der beiden Designer, zum ersten Mal ein Bild um 180 Grad gedreht hat. Die Kleider dieser jüngsten Kollektion "Late Stage Capitalism Waltz" von 2023 dürfen aber auch quer zum Körper stehen oder eher schweben? In gebührlichem Abstand zur Trägerin. Das ist praktisch, so etwas wird zumindest im optisch auffälligen "Vorbau" einfach nicht zu eng.
In erster Linie demonstrieren diese irritierenden Aufzüge, dass Viktor & Rolf nie die gewohnten Perspektiven einnehmen und Mode ein Statement sein soll, etwas, das zum Nachdenken anregt, besser noch zum Diskurs. Verbindungen zum Autorenschmuck sind keineswegs von der Hand zu weisen. Die Nähe zur Kunst ist sowieso unübersehbar, und wenn Viktor & Rolf ihre ersten Entwürfe in Galerien und Kunsträumen präsentiert haben, dann war das nicht nur ihren klammen Kassen, sondern fast mehr noch ihrem Selbstverständnis geschuldet.
Kunst muss ja auch nicht, Kunst kann, sofern sie überhaupt mag. Das ist in den Kollektionen "Wearable Art" - gleich mit Bilderrahmen ausgestattet - und "Performance of Sculptures" eigenwillig geformt und auf den Leib geschneidert. Mit Abstrichen, versteht sich, bequem kann das nicht sein. Und bevor etwas droht, zu "kleidsam" und elegant zu werden wie die Tüllausschweifungen im "High Society"-Stil von Grace Kelly, pappt ein fettes "Fuck Yourself" auf dem Rock oder ein flammenzüngelndes "Go to Hell" (Fahr zur Hölle) mit Totenkopf. Selbst den Royals dieser Welt werden neue Dresscodes anempfohlen: Der gute alte Hermelin ist durch Kunstfasern in der Art von Cheergirl-Püscheln ersetzt, Krönchen und Diademe durch Trash-Klunker wie aus dem Kaugummi-Automaten. Dazu passt, dass die Herrschaften lediglich vor einem Versailles-Poster posieren - wie bei den Vorführungen 2021.
Nicht genug Geld für Mannequins: Not-Prozedere ging in die Kunst-Mode-Geschichte ein
Diese unterhaltsame Widerborstigkeit hat Viktor & Rolf dennoch nicht daran gehindert, für eine echte königliche Hochzeit geradezu konservativ zu werden: Vor 20 Jahren bat Mabel Wisse Smit, die Verlobte von Prinz Friso von Oranien-Nassau, das Duo um ein Brautkleid und forderte nach mehreren zu brav ausgefallenen Vorschlägen, es dürfe ruhig frecher sein. Dank der 264 Schleifen wurde dieser Traum in Weiß doch noch ein bisschen extravagant und blieb im Gedächtnis der Fernsehzuschauer.
Ähnlich könnte es den Operngängern in Baden-Baden ergangen sein, als Robert Wilson 2009 Carl Maria von Webers "Freischütz" inszenierte. Viktor & Rolf steckten den Jägerburschen Max - Berufswunsch Förster - in ein Blätterkostüm, die Sopranistin Juliane Banse mutierte als Agathe zum Blumenbouquet und hatte 11 Kilogramm Blüten über die Bühne zu schleppen. Teuflisch gut sah das aus, war allerdings nichts gegen die 70 Kilogramm Stoff, die das Model Maggie Rizer um die Jahrtausendwende als "Russian Doll" respektive Matrjoschka aushalten musste.

Seinerzeit fehlte das Geld für 30 Mannequins, daher machten die Designer aus der Not eine verrückte Performance, indem sie Maggie ein Kleid nach dem anderen überzogen. Dieses Prozedere ist in die Kunst-Mode-Geschichte eingegangen und kann nun in Holografien nachverfolgt werden.
Celine Dion und Madonna, Lady Gaga und Jennifer Lopez brauchen sich nicht gar so zu quälen, wenn sie sich von Viktor & Rolf einhüllen lassen. Die Berühmtheiten sind scharf auf deren Outfits und würden sich womöglich sogar rote Teppiche umlegen. So wie vor zehn Jahren, als die Niederländer unbekannte Models in "Red Carpets" wickelten, um den Starkult gnadenlos auf die Schippe zu nehmen. Wer es in den Fashion-Olymp geschafft hat, darf alles. Auch den Spiegel vorhalten.
"Viktor & Rolf. Fashion Statements" bis 6. Oktober in der Kunsthalle München, Theatinerstraße 8, täglich von 10 bis 20 Uhr, Katalog (Hirmer, 45 Euro in der Kunsthalle, 55 Euro im Handel)
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