Vier Striche Sinnlichkeit
Harlekins, Stierkämpfe und nackte Körper: In seiner ersten Wechselausstellung zeigt das Museum Brandhorst die eindrucksvollen Künstlerbücher des Meistermalers Picasso
Es fehlt etwas. Eine alte Frau, schwungvoll vom Meister gezeichnet, steht verloren auf der Buchseite und gestikuliert ins Leere. André Salmons Textsammlung „Das in einem Hut gefundene Manuskript“ (1919) wurde mit bereits vorhandenen Zeichnungen von Picasso verziert, darunter die bucklige Alte. Die Bilder könnten den Autor gar beim Schreiben inspiriert haben, vermutet man, was das normale Verhältnis umkehren würde: Zuerst die Illustration, dann der Text.
Wobei Picasso dann Jahre später noch mal Hand anlegte, im März 1947, an einem Exemplar, dass er seinem Freund, dem Poeten Paul Éluard widmete. Der spanische Maler fügte flott einfach Figuren hinzu. Plötzlich ist dann die Alte nicht mehr allein, sondern vermittelt zwischen einem Greis und einer nackten vollbusigen Konkubine. Aus der Einsamen wird eine Kupplerin, die Leerstelle ist gefüllt. Das Erzählen wuchert weiter.
Ideenmasse in 156 Büchern
Einen „Glücksfall“ nennt Kuratorin Nina Schleif, dass man beide Exemplare, das ursprüngliche und überarbeitete, in der Sammlung von Udo und Anette Brandhorst finden konnte. Hier zeigt sich die unglaubliche Schöpferkraft von Picasso, seine Kreativität, die nie stillhält. Man kann nur staunen, angesichts der schieren Masse seiner Ideen, die sich auch in jenen 156 Büchern finden, zu denen er Graphiken beisteuerte.
Von diesen Künstlerbüchern befinden sich gut zwei Drittel im Besitz des Sammlerpaars, ein Großteil davon wird jetzt im Museum Brandhorst gezeigt. Eine besondere Schau, ist dies doch auch die erste Wechselausstellung, die im 2009 eröffneten Museum stattfindet. In sechs Räumen im unteren Geschoss des Baus wurde Platz gemacht für die Bücher und die darin befindlichen Graphiken des epochemachenden Künstlers.
Berühren ist nicht erlaubt, aber die Ausstellungsmacher um Kuratorin Nina Schleif versuchen, den Besucher so gut wie möglich auf Tuchfühlung mit den Bücher zu bringen – in Sälen, die von den Architekten des Museums, Sauerbruch Hutton, gestaltet wurden. Freistehende Vitrinen, an den Wänden angebrachte Schaukästen laden zum Genauer-hinschauen ein. Jenseits des Inhalts hat Picasso seinen motivischen Vorlieben gefrönt, auf zwei Büchern von Max Jacob finden sich Harlekin-Illustrationen, bei „Der Würfelbecher“ (1917) löst Picasso die Diener-Formen kubistisch auf – auch die Graphik war ein Experimentierfeld für ihn.
Üppige Sinnlichkeit
Entfaltet sich auf einem Bogen mit 66 Radierungen für Fernando de Rojas’ „La Celéstine“ die ganze Picasso-typische üppige Sinnlichkeit, überraschen seine Illustrationen für Adrian de Monlucs Roman „Die Magere“: Hier erfindet Picasso eine dürre Gestalt, der Besen in ihrer Hand ein Spiegelbild des Körpers. Ein Saal ist seinen Aquatinta-Radierungen für José Delgados „Tauromachie“ gewidmet, im Rundgang eröffnet sich das ganze Drama des Stierkampfs,.
Mit kräftig roten Litographien setzt Picasso im letzten Saal einen lebhaften Kontrast zum sterbenstrunkenen Klang der Worte in Pierre Reverdys „Totengesang“. Hier stehlen die spontanen Pinselstriche dem geschliffenen Text beinahe die Schau. Oft harmonieren jedoch Schrift und Bild, etwa in Picassos Klassiker-Illustrationen. Für Ovids „Metamorphosen“ zeichnet er einen nackten Frauenrücken, einen Po, und allein daran, welche Sinnlichkeit er mit vier Strichen erreichen kann, zeigt sich die Meisterschaft des Künstlers.
Michael Stadler
Museum Brandhorst, bis 6.3.11, tägl. außer Mo, 10 bis 18 Uhr, Do bis 20 Uhr. Der Katalog erscheint im Hirmer Verlag
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