Viel nackte Haut, aber keine Orgie

Charlotte Roches Skandalroman im Theater - da wurden Schock-Effekte und Sex erwartet. Fehlanzeige: Die Schauspielstudenten in Halle zeigten lieber die psychologischen Aspekte der «Feuchtgebiete».
von  Abendzeitung

Charlotte Roches Skandalroman im Theater - da wurden Schock-Effekte und Sex erwartet. Fehlanzeige: Die Schauspielstudenten in Halle zeigten lieber die psychologischen Aspekte der «Feuchtgebiete».

Helen und Co. zeigen viel Haut, sind aber nie komplett nackt. Sie sprechen von «Muschi-Schleim» und «Pipi-Tropfen», haben aber keine einzige anstößige Szene. Es gibt etwas rote und weiße Flüssigkeit, aber keine Blut- und Sperma-Orgie.

Die erste Bühnenversion zu Charlotte Roches Bestseller «Feuchtgebiete», in dem die Protagonistin an Schorf knabbert und an Eiter leckt, setzt weit weniger auf Schock- und Skandal-Effekte als das Buch - und als manch anderes Drama.

Mit kräftigem Applaus belohnt

Am Samstag wurde die Inszenierung der Berliner Regisseurin Christina Friedrich am Neuen Theater in Halle uraufgeführt. Von den etwas mehr als 100 Zuschauern gab es für das mit Spannung erwartete Stück kräftigen Applaus - besonders für die Protagonistin Helen Memel, gespielt von der 25 Jahre alten Österreicherin Ines Schiller. Zehn Vorstellungen sind bereits ausverkauft. In sieben weißen in die Bühne eingelassenen Kuhlen liegen drei junge Frauen und vier junge Männer in Embryonalhaltung - schon vor Beginn der Vorstellung. Dann geht das Licht aus, Herztöne kommen aus Lautsprechern und die in Baumwollunterwäsche gekleideten Darsteller räkeln und strecken sich.

Lachen und Weinen

«Ich bin mir sicher, dass es keinen Himmel gibt», sagt Helen. Plötzlich zerren und ziehen die anderen an ihr und tragen sie weg. Auf den Bühnenboden wird das Video eines nackten Fußes im Sand projiziert, Helen liegt darauf, windet sich, schluchzt.

Das erste Mal herzlich lachen muss das Publikum, als die Männer Textpassagen aus dem tabulosen Roman aus weiblicher Perspektive zitieren. «Um mich zu beruhigen, lege ich meine Hand auf meinen Venushügel», berichtet etwa ein Jungschauspieler.

Masturbieren ohne Anfassen

Dann ahmen die Männer - mit Bettlaken als Lendenschurz und weißem Handtuch als Kopftuch - italienische Gigolos nach, die lustvoll Teig kneten und dabei mit zitternden Körpern eine gemeinschaftliche Masturbation andeuten; ohne ihre Hände dafür einzusetzen. Helen nimmt sich ein Stück rohes Fleisch, reibt es an ihrem Körper, beißt genüsslich hinein. «Ich bin doch kein totes Reh, sondern ein lebendiges Mädchen», sagt sie - und berichtet immer wieder mit angsterfülltem Gesicht und angespanntem Körper, wie sie ihre Mutter und ihren Bruder vor einer Gasvergiftung gerettet hat.

Nur ein nackter Po

Sie springt und hüpft mit den sechs anderen zu lauter Elektromusik - eigens für das Stück komponiert vom 1980 geborenen Jakob Suske - über die Bühne. Alle zittern und schreien und fallen glückselig und erschöpft übereinander. Nur ein einziges Mal zieht sich ein Schauspieler etwas aus: Zu sehen ist ein nackter Po. Mal wird aus einem Becher etwas Milch auf die Bühne gespritzt, mal aus einem anderen rote Flüssigkeit, in der sich Helen einmal wälzt. Die jungen Leute lassen Avocados über ihre Haut rollen und naschen Weintrauben, erkunden mit den Händen ihre Körper, aber nie unter der Gürtellinie. Für Heiterkeit sorgt ein Video, in dem eine Möhre in Penisform kopfüber kräftig an einer Reibe zerkleinert wird.

Psychogramm statt Sex-Show

Oft kommt ein großes Mikrofon zum Einsatz, an dem sich etwa die Männer und Frauen gegenseitig mit Intim-Ausdrücken übertrumpfen. Als A-Capella-Band singen die Herren dann ein peppiges Lied, das von Gangbang, Pussies und Boy Toys handelt. Helen wirft sich weinend in die Arme der Männer.

Nach 90 Minuten voller Angst und Freude liegt sie mit einem der Herren, der ihr ewige Treue verspricht, gemeinsam in Embryonalstellung in einer Kuhle - und der Herzschlag ertönt wieder aus dem Lautsprecher. (Sophia-Caroline Kosel, dpa)

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