Verzweiflung an die Wand gemalt

Munter am unverständlich gesungenen Text entlang: Das Gärtnerplatztheater zeigt Grigori Frids 1972 entstandene Kammeroper „Das Tagebuch der Anne Frank“ im Marstall
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Munter am unverständlich gesungenen Text entlang: Das Gärtnerplatztheater zeigt Grigori Frids 1972 entstandene Kammeroper „Das Tagebuch der Anne Frank“ im Marstall

Als Beitrag zur Erinnerungskultur hat dieser Abend seine Meriten: Wer von Anne Franks Tagebuch bewegt wurde, erlebt für eine knappe Stunde ihre Geschichte noch einmal. Thérèse Wincent verkörpert die Figur mit Rückhaltlosigkeit, und das Kammerensemble des Gärtnerplatz-Orchesters spart nicht mit klarer Präzision.

So weit, so gut gemeint. Der Russe Grigori Frid hat vor über 30 Jahren Anne Franks Gefühle und Stimmungen im Zeitopernstil von Hindemith oder Weill vertont. Als Liederzyklus könnte das gediegene Werk jederzeit durchgehen, als dramatischer Text ist das Tagebuch in Originalform halbherzig bis untauglich, weil es Sachverhalte berichtet, statt sie mit Mitteln des Theaters darzustellen.

Eile statt Nachhaltigkeit

Frid springt hurtig von hier nach da. Er gönnt seiner Heldin keine Nachdenklichkeit und dem Zuschauer keine Einfühlung. In der Schluss-Szene wird Anne Frank nach dem Reglement des sozialistischen Realismus noch zur Prophetin einer lichten Zukunft stilisiert. Die Musik kratzt im trauermarschartigen Nachspiel gerade noch die Kurve. Das musste 1972 in Moskau so sein, aber für Heutige ist das eine Zumutung.

Selbst das ließe sich angesichts löblicher Absichten verschmerzen, wenn wenigstens der Text verständlich wäre. Die Sängerin arbeitete hart, aber vergebens, weil die russische Vertonung ohne viel Rücksicht auf eine natürliche Betonung ins Deutsche gequält wurde. Das Zielpublikum, für das schwatzende Schülerinnen hinter dem Rezensenten beispielhaft stehen mögen, langweilte sich bei dem Exerzitium.

Weil die Eingeschlossenheit der vom Komponisten zur Heiligen stilisierten Figur nicht vorkommt, ließ der Regisseur Heinz-Lukas Kindermann die Sängerin Anne Franks Verzweiflung wenigstens einmal wütend an die Wand malen. Aber es half nichts: Die Aufführung erschöpft sich darin, Erinnerung als bequemes Ritual zu zelebrieren. Und das ist nicht nur schade, sondern schädlich.

Robert Braunmüller

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