Verschobenes Ende

Der Weltuntergang ist auch nicht mehr, was er mal war. Seit 3000 Jahren wird das Ende des Abendlandes beschworen. In „Menetekel“ setzt Gerhard Henschel finstere Propheten ins Unrecht
Abendzeitung |
X
Sie haben den Artikel der Merkliste hinzugefügt.
zur Merkliste
Merken
0  Kommentare
lädt ... nicht eingeloggt
Teilen  AZ bei Google News

Der Weltuntergang ist auch nicht mehr, was er mal war. Seit 3000 Jahren wird das Ende des Abendlandes beschworen. In „Menetekel“ setzt Gerhard Henschel finstere Propheten ins Unrecht

Das Wort des Guido Westerwelle von der „spätrömischen Dekadenz“ war erst der Anfang. Heute brechen die 40 Tage der Mäßigung an. Fastenprediger haben Oberwasser. Es ist an der Zeit, härene Bußgewänder aus dem Schrank zu holen und zur Nüchternheit aufzurufen. Denn wir leben in schlimmen Zeiten. Das Ende ist nah.

Doch halt! Es gibt gute Gründe fürs Weiterfeiern. Jede wohlsortierte Buchhandlung hält Argumente bereit. Vom Äußeren des in schwarzes Leinen gehüllten und mit düsteren Schnittkanten versehenen Bandes „Menetekel“ sollte sich keiner täuschen lassen. Denn im Inneren macht Gerhard Henschel seinem Grimm über zornige Visionäre Luft. Er rechnet vor, dass der Untergang des Abendlandes bereits 3000 Jahre andauert.

Verfall im freien Fall

Von einem die verheerende Dekadenz unserer Tage beklagenden Leserbrief in der „FAZ“ ausgehend, führt das Buch über Konrad Lorenz und Oswald Spengler rückwärts zu jenen Verrückten, die sich 1914 vom Weltkrieg eine moralische Sanierung der Gesellschaft erhofften. Rassenhygieniker und Kritiker der Onanie passieren Revue. Ein paar Seiten weiter sind grimmige Kirchenväter und moralisierende Römer dran. Alle diese Kulturkritiker beschworen regelmäßig die züchtigen Jahre ihrer Opas, die aber bereits damals von Zeitzeugen als höchst liederlich beschrieben wurden.

Schon Homer begann die seit Jahrtausenden gebetsmühlenartig wiederholte Verfallsklage. Der Untergang des Morgenlandes dauert noch länger, weil aus Sumer und dem alten Ägypten noch frühere Zeugnisse der Schriftkultur vorliegen, die auch schon über die Zerstörung des Goldenen Zeitalters durch liederliche junge Menschen zetern.

Ein Abschnitt für Westerwelle

Für Wähler und Vorsitzende der FDP hält das Buch ein eigenes Kapitel zum Untergang des Römischen Reiches bereit. „Verfeinerung, Luxus und Konsum sind alles andere als dekadente Verfehlungen einer späten reichen Kultur, sondern notwendige Bedingungen des Wohlstands“, lässt Henschel den Wirtschaftsjournalisten Rainer Hank argumentieren. Er warnt davor, auf Läster-Reden früher christlicher Kirchenväter hereinzufallen, deren Machtübernahme das Römerreich nicht rettete, sondern völlig ruinierte.

Am zerflatternden Ende des Buchs spottet Henschel über die Untergangsexperten Oswald Spengler und Günther Anders. Ein paar frühe grüne Sektierer wie Herbert Gruhl und Rudolf Bahro bekommen eins übergebraten, die Propheten der Klimakatastrophe kommen leider ungeschoren davon, obwohl sie prächtiges Material geliefert hätten. Dafür knöpft Henschel sich den Literaten Rolf Dieter Brinkmann vor, ein Musterbeispiel für den kerndeutschen Hass auf den Moloch Großstadt.

Wim Thoelkes Erlebnisse mit einem Philosophen

Am schönsten ist es jedoch, einen Dekadenzprediger beim Sündigen zu erwischen. Henschel hat ein besonders schönes Beispiel parat, das er Wim Thoelkes Erinnerungen entnahm. Als Generalsekretär des Deutschen Handballbundes wurde der 1952 losgeschickt, um den Philosophen Ortega y Gasset aus dem Hotellotterbett zu holen. Der Theoretiker von Zucht und Sittlichkeit glaubte, er sei um 11 Uhr abends statt vormittags zu einer Rede über den Sport als Bruder der Arbeit gebeten. Er vergnügte sich zu dieser Zeit mit drei käuflichen Damen und lud den jungen Thoelke ein, an seinen Genüssen teilzuhaben. Der blieb standhaft und der Untergang des Abendlands ward noch einmal aufgeschoben.

Robert Braunmüller

Gerhard Henschel: „Menetekel“ (Eichborn, 370 Seiten, 32 Euro)

Lädt
Anmelden oder registrieren

Zum Login
Zu meinen Themen hinzufügen

Hinzufügen
Sie haben bereits von 15 Themen gewählt

Bearbeiten
Sie verfolgen dieses Thema bereits

Entfernen
Um "Meine AZ" nutzen zu können, müssen Sie der Datenspeicherung zustimmen.

Zustimmen
 
0 Kommentare
Bitte beachten Sie, dass die Kommentarfunktion unserer Artikel nur 72 Stunden nach Veröffentlichung zur Verfügung steht.
Noch keine Kommentare vorhanden.
merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.