Ungewaschener Erfolg
Es gibt viele große Bücher in dieser Saison: Dennoch beherrscht Charlotte Roche die Leipziger Buchmesse
Mit Verzweiflung und angewidertem Interesse bestaunt die Branche auf der Leipziger Buchmesse derzeit ein neues Phänomen. Zu welchem literarischen Stand man auch geht, überall dreht sich das Gespräch um Charlotte Roche, denn die zierliche Britin hat mit ihrem Debüt „Feuchtgebiete“ alle abgehängt: Walsers Roman über Johann Wolfgang von Goethe letzte Liebe, Philip Roths grandiosen Abschluss seiner Zuckerman-Romane und Jonathan Littells Innenansicht eines SS-Mannes. Nur Ken Follett schreibt am Lübbe-Stand entspannt Autogramme. Aber dass 18 Jahre nach den „Säulen der Erde“ sein neuer Wälzer „Die Tore der Welt“ auf konkurrenzloses Interesse stoßen würde, war allen Branchenkennern klar.
Vaginamonolog als Plädoyer gegen Hygiene?
Was aber schreibt Roche überhaupt? Einen Vaginamonolog als Plädoyer gegen Hygiene? Ist Waschen ein Tabu, das gebrochen werden muss? Genügt es nicht, dass sich in seiner kurzzeitigen Leipziger Messekommune Rainer Langhans mit dem Münchner Blumenbar-Verlag und 15 Menschen eine Dusche teilt? Nichts liebt der Markt mehr als Obszönitäten und Skandale, am liebsten literarisch hochwertig verpackt. Die 29-jährige Roche allerdings hat das Niveau erfolgreich in ungeahnte Gebiete verlagert.
Helge Malchow als Held oder Depp der Saison
Helge Malchow, Verleger des agilen und jugendbewegten Kölner Verlags Kiepenheuer & Witsch, gilt nun hinter vorgehaltener Hand wahlweise als Held oder Depp der Saison. Schließlich hatte er zuerst das Skript von Charlotte Roche auf dem Tisch und dankend abgelehnt, weil ihm bei der Lektüre von zweihundert Seiten Gestammel über Geschlechtsorgane und Körperflüssigkeiten „eine zweite Ebene“ fehlte. Die fehlt nun auch seinem Verkaufsleiter. Denn bis zu 20000 Exemplare täglich verkauft Konkurrent DuMont von Roches „Feuchtgebieten“ derzeit nach eigenen Angaben täglich.
Dass selbst gestandene Kulturjournalisten wie Gert Scobel am 3sat-Stand vor der neuen Ikone weiblicher Selbstbestimmung zu Kreuze kriechen, ist schon erstaunlich. In der ganzen Weltliteratur habe er nicht derartige Schilderungen von Hämorrhoiden gefunden, lobte Scobel und ließ Roche ungebremst fabulieren, sie habe mit jeder Seite sprachliches und thematisches Neuland betreten. Unter Ausschluss der Grammatik allerdings, weshalb Literaturkritiker Dennis Scheck im Berliner „Tagesspiegel“ Nachhilfe erteilt: „.... ganz sicher aber tunkt man nicht mit dem Finger in die Muschi. Richtig müsste es also heißen: ,Den Finger kurz in die Muschi tunken und etwas Schleim hinters Ohrläppchen tupfen und verreiben.’“
Die Wanderungen der medialen Halbprominenz
Angesichts dieser Abgründe kann auch der ansonsten eloquente Lyriker und Hanser Verleger Michael Krüger nur noch den Kopf schütteln. Man darf schon jetzt Mitleid mit den Lektoren haben, die sich zukünftig durch die Ergüsse von Roches Epigonen quälen dürfen. Schließlich hat bislang noch jeder Bestseller einen Trend gesetzt.
Besonders beliebt sind daher Wanderungen und Reisen der medialen Halbprominenz. Seit Hape Kerkeling mit seinem Pilgerbuch „Ich bin dann mal weg“ das Sachbuch beherrscht, hat er mehrere Wunder vollbracht. Er ist kurz davor, die drei Millionen Exemplare zu überspringen, ist selbst der „New York Times“ ein Interview wert und hat nun eine US-Heimat in einem Verlag gefunden. Da kann es sich Kerkeling locker leisten, dem Leipziger Treiben einfach fernzubleiben.
Volker Isfort