Und wenn es ein Staatsverbrechen war?
Wolfgang Schorlau spürt den Ungereimtheiten in den Ermittlungen zum NSU-Trio nach
Eigentlich bräuchte dieses Buch einen Warnhinweis: „Vorsicht, die Lektüre kann Ihr Vertrauen in den Staat zerstören!“ Wolfgang Schorlau jedenfalls schreibt in seinem neuen Bestseller „Die schützende Hand“ so schonungslos über die bewussten Fehler, die Vertuschungen und Lügen bei der Aufklärung der NSU-Mordserie, dass es dem Leser fast den Boden unter den Füßen wegzieht. Schorlau ist der journalistische Aufklärer unter den deutschen Krimiautoren. Er findet seine Themen in den Schattenbereichen der politischen Realität, sei es beim immer noch ungeklärten Bombenattentat auf dem Münchner Oktoberfest, beim angeblichen Waffentest der Bundeswehr in Afghanistan, der kriminellen Energie der Pharmaindustrie oder nun bei den Merkwürdigkeiten um die Mordserie des NSU-Trios.
Wer erschoss Mundlos und Böhnhardt?
Sein Privatermittler Georg Dengler schlägt sich trotz seiner Vergangenheit beim Bundeskriminalamt in Stuttgart eher mit profanen Problemen rum, meist der Beschattung von Menschen, deren Partner Untreue vermuten. Mitten hinein in seine Geldnot und den tristen Alltag platzen ein Päckchen mit einem Handy und ein Umschlag mit 15 000 Euro. Bald schon folgt der Auftrag von anonymer Seite: „Wer erschoss Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt?“ Dengler und seine trinkfreudigen Freunde stürzen sich ein wenig ratlos in die Recherche. Denn eigentlich ist der Fall laut Staatsanwaltschaft ja längst geklärt. Die beiden Neonazis bildeten zusammen mit der in München vor Gericht (noch immer) schweigenden Beate Zschäpe den Nationasozialistischen Untergrund. Dem Trio wird der Mord an acht türkischstämmigen und einem griechischen Kleinunternehmer zugeschrieben sowie die Ermordung der Polizistin Michèle Kiesewetter und die versuchte Tötung ihres Kollegen. Ebenso sollen sie verantwortlich sein für 14 Banküberfälle und das Nagelbombenattentat in der Kölner Keupstraße.
Am 4. November 2011 schließlich setzten Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos nach einem Sparkassenraub in Eisenach ihrem Leben ein Ende. Als sich zwei Streifenpolizisten dem Wohnmobil der beiden näherten, soll Uwe Mundlos seinen Freund erschossen, das Wohnmobil in Brand gesteckt und sich selbst mit einer Pumpgun getötet haben (alles innerhalb von zwanzig Sekunden). Nach der Lektüre von „Die schützende Hand“ hat man an dieser offiziellen Erzählung aber seine Zweifel. Schorlau dreht – wie schon in seinem Roman über das Oktoberfestattentat – am ganz großen Rad und rollt die dunkle Seite der bundesdeutschen Nachrichtendienste historisch auf: von einer Altnazi-Guerillatruppe, die 1956 in den neu gegründeten Bundesnachrichtendienst überging, bis hin zum Aufbau der rechtsradikalen Szene in Thüringen mit mehreren Millionen Mark an Steuergeldern. Jeder vierte Neonazi aus dem harten Kern wurde dort zeitweilig als V-Mann bezahlt.
Da Dengler seinen Freunden und seiner mitermittelnden Lebensgefährtin Zwischenberichte erstattet, behält auch der Leser den Überblick in dem Faktenwust, den Schorlau recherchiert hat. Und, wenn er sich nicht weiter zu helfen weiß, hängt der Autor ganze „Stern“-Artikel zwischen die kurzen Kapitel. Das ist nicht immer die eleganteste Lösung, aber der Kloß im Hals des Lesers wächst aus einem ganz anderen Grund: Welche Erklärung gibt es dafür, dass Mundlos und Böhnhardt zwar der halbe Schädel fehlt, aber keinerlei Rückstände der insgesamt zwei Kilo Hirnmasse an den Wänden kleben (und nicht im Wohnmobil gefunden wurden). Warum wurden am Tatort massiv und dilettantisch Spuren verwischt? Schorlau bietet in seiner spannenden „literarischen Ermittlung“ eine Lösung für diese und viele weitere Fragen und Ungereimtheiten. Man muss ihr nicht folgen. Aber man darf mit Dengler schon daran verzweifeln, wie Lügen und falsche Angaben vom „kleinsten Beamten bis zum Präsidenten des Bundeskriminalamtes durchmarschiert sind“. Und man hätte so gerne ein paar Antworten.
Wolfgang Schorlau: „Die schützende Hand“ (Kiwi, 382 S., 14,99 Euro)