Überleben, ohne durchzuknallen
„Der kleine Bruder“: Sven Regener beendet die Lehmann-Trilogie
Wir begegnen Frank Lehmann auf der Transit-Strecke nach Berlin wieder. In einem Satz, der die erste Seite einnimmt und der, mit Einschüben und Relativsätzen, einen Beat hat wie Reifen, die über die Betonfugen der alten Autobahn holpern. „Der kleine Bruder“ heißt der dritte Teil von Sven Regeners Lehmann-Trilogie.
Ein Gelenkroman
Chronologisch platziert er sich zwischen „Neue Vahr Süd“ und „Herr Lehmann“, also der Erzählung von Franks vereierter Militärzeit in Bremen und seiner Berliner Existenz in der Wendezeit. Als Gelenkroman zwischen den beiden Städten umspannt er eine erzählte Zeit von zwei Tagen.
Nach einem Selbstmordversuch, der das schnelle Ende seiner Militärzeit bedeutet, ist Lehmann auf dem Weg in die geteilte Stadt, um dort bei seinem Bruder zu wohnen. Die Suche nach ihm, der irgendwo in dieser Stadt abgetaucht ist, von dem jeder mehr zu wissen scheint, als er vorgibt, dessen Spuren aber in Galerien oder Hinterhöfen verlaufen – sie ist der von Regener in einzelne Fasern zerspleißte Faden des Romans. Das Erzählen des Element Of Crime-Sängers Sven Regener funktioniert über weite Strecken durch Dialoge. Denn nirgendwo sonst lässt sich eine in der Feedback-Schleife hängende Gesellschaft besser erfassen als in ihren verbalen Absonderungen.
Noch steht die Mauer
Das Kreuzberg, das Regener beschreibt, ist noch das der Mauer-Enklave. Wer sich hierher verschlagen lässt, der darf sich am Puls der Szene wähnen. ArschArt heißt die Galerie, Dr. Votz die Band, P. Immel ihr künstlerischer Mentor. An diesen Punkten hängt Regener die Berliner Szene auf. Aber natürlich ist die Vulgarität nicht der Witz dieser Beschreibungen. Komisch und zu einer griffigen Parodie wird Regeners Roman durch die Figur des Frank Lehmann.
Dieser nämlich tritt als kleiner Bruder dem Berliner Treiben mit einer fast ethnologischen Distanz entgegen, die man als ein frisch aus Bremen Importierter gar nicht sofort ablegen kann. Die Regeln der Kunstszene erklärt ihm der Freund des Bruders, Karl: „Es ist Kunst, wenn einer sagt, dass es Kunst ist“, sagte Karl. , „Im Zweifel ich. Ich darf das sagen. Und dann muss ich noch mindestens einen finden, der mir das glaubt. Dann ist es Kunst.“
Gnadenloser Rückblick
Sven Regener, der selbst Anfang der 80er Jahre von Bremen nach Berlin umzog, wirft aus zeitlicher Distanz einen gnadenlosen Blick wohl auch auf die Erfahrungen, die seine Biografie prägten. Funktionieren konnte diese Berliner Szene nämlich nur durch hemmungslose Selbstbespiegelung, ohne sich dabei allerdings gegenseitig ins Gesicht zu sehen.
Der Held wird Getränkeverkäufer
Regener erzählt von Punk-Bands, die keine sind, besetzten Häusern, die keine sind, Installationen die keine sind, Dichtern, die keine sind – außer eben für den Berliner Moment, durch die Macht der Behauptung. Bei aller Komik, die in den Sätzen dieser Figuren aufläuft, ist da die Einsamkeit und Ziellosigkeit einer vom bundesdeutschen Rest isolierten Stadt zu spüren.
Hier kann nur überleben, ohne durchzuknallen, wer sich ein kleines überschaubares Terrain im Zwischenmenschlichen erobert. Halt und Erfüllung findet der unhippe Realist Frank mit der grundsätzlich passiven Einstellung auch eben nicht vor dem Tresen, sondern in dem Moment, als er beginnt, Getränke zu verkaufen.
Christian Jooß
„Der kleine Bruder“ (Eichborn, 281 Seiten, 19.95 Euro)
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