Über die Grenze hinaus

Ein Banküberfall und seine Folgen: Richard Ford fahndet in seinem neuen Roman „Kanada” dem Domino-Effekt des Bösen nach und legt dabei ein Musterbeispiel realistischen Erzählens vor
von  Michael Stadler

Das Unglück, von dem dieser Roman in aller Breite erzählt, beginnt im Grunde mit der Begegnung zweier Menschen, zwischen einem US-Bomberpiloten schottisch-irischer Abstammung und einer Lehrerin, Tochter jüdischer Einwanderer aus Polen. Bei einer Party zu Ehren heimgekehrter Flieger aus dem Zweiten Weltkrieg treffen die beiden sich.

Die Frau wird schwanger, gebiert Zwillinge, den Jungen Dell, das Mädchen Berner, und so müssen die Zufallsbekannten zusammenbleiben und lassen sich nach einigen Umzügen mit ihren Kindern in Great Falls, Montana, nieder.

Es ist eine verkorkste Allianz von Anfang an, wie Dell, der Ich-Erzähler von Richard Fords Roman „Kanada”, immer wieder betont, der Vater ein Leichtfuß mit verbrecherischer Ader, die Mutter eine ambitionierte Intellektuelle, und es erscheint so unwahrscheinlich wie folgerichtig, dass dieses Duo eines Tages eine Bank im benachbarten North Dakota überfällt und damit die Familie mit einem Schlag auseinandersprengt.

An Krimi-Spannung ist dem großen amerikanischen Erzähler Ford nicht gelegen: dass die Eltern einen Banküberfall begehen werden, berichtet Dell gleich im ersten Satz und weist auf Morde hin, die folgen werden. So werden die Ereignisse in eine Reihenfolge gebracht – immerhin: im Rückblick kann der mittlerweile 66-jährige Dell klare Linien ziehen und Übersicht über das herstellen, was er als Teenager erlebte, auch wenn es gerade darum gehen wird, wie instabil und verletzlich jede Ordnung ist, wie schnell ein Domino-Effekt der Grenzüberschreitungen entstehen kann. Nachdem die Eltern im Knast landen, bleiben Dell und Berner allein zurück und stellen nicht nur mit dem halbstarken Freund Berners das Haus auf den Kopf, sondern werfen auch die sittlichen Normen über den Haufen.

In seiner Trilogie um seinen Protagonisten Frank Bascombe, der als Sportjournalist, dann als Immobilienmakler arbeitet, hat Ford psychologisch genau der komplexen Seelenlage des US-Mittelstands nachgespürt, dies relativ zeitnah – „Die Lage des Landes” spielte im Herbst 2000, zur Zeit der Präsidentschaftswahlen. In „Kanada” blickt er nun mit seinem Helden Dell in das Jahr 1960 zurück. Die wilden Sixties finden sich jedoch nur als Ahnung im Roman. Bevor das Jugendamt ihrer habhaft werden kann, flieht Berner nach Kalifornien, während Dell von einer Bekannten der Mutter über die Grenze ins kanadische Saskatchewan befördert wird, wo er amerikanischen Urlaubern bei der Jagd behilflich ist und erneut mit dem Bösen in Gestalt eines exzentrischen Hotelbesitzers konfrontiert wird.

Ein rüder Wiedergänger des Großen Gatsby ist Arthur Remlinger, ein Emporkömmling, der von seiner Vergangenheit eingeholt wird und Dell gewissenlos für seine Zwecke einspannt. Die Frau an Remlingers Seite malt Bilder im Stile der „Nighthawks”, Edward Hopper und seine Nachfolger sind gemeint, und so realitätsnah, von Melancholie durchzogen wie Hopper es mit dem Pinsel tat, malt Ford die Welt seines Helden sprachlich aus. Die detailfreudigen Beschreibungen sind mitunter ermüdend, aber Dell, dem unschuldig verstrickten, sich für Schach und Bienen begeisternden Jungen folgt man unweigerlich hinein in die Dunkelheit. Aber auch wieder hinaus, weil Ford ihm mit der Milde des erfahrenen, aber nicht zynisch gewordenen Autors einen ruhigeren Lebensfortgang gönnt.

Richard Ford: „Kanada” (Hanser, 464 S., 24.90 Euro)

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