Traumstar traumatisiert

Berlinale: Scorsese hat zwar DiCaprio mitgebracht, aber sein Film ist ermüdende Überwältigung. Da ist es besser, in Vinterbergs Film ergriffen zu weinen. Und Bollywood versucht Völkerversöhnung.
von  Abendzeitung

Berlinale: Scorsese hat zwar DiCaprio mitgebracht, aber sein Film ist ermüdende Überwältigung. Da ist es besser, in Vinterbergs Film ergriffen zu weinen. Und Bollywood versucht Völkerversöhnung.

Zuerst die gute Nachricht: Die Zahl der Kinobesucher ist im letzten Jahr in Deutschland um 13 Prozent gewachsen – doppelt so stark wie in den anderen europäischen Ländern. Das hat eine italienische Marktanalyse herausgefunden. Aber beim Berlinalewochenende dominieren – zumindest inhaltlich – Depression – neben Paranoia und Gewalt. Das bisschen Wärme und Gutmenschlichkeit, das dann die Bollywood-Produktion „My Name Is Khan“ mitbrachte, bringt’s dann auch nicht mehr, wenn der Festivalier im Morgengrau als Eisplattenbezwinger ins Kino und im Abenddunkel zurück ins Hotel rutscht.

Ein vages Gefühl von Enttäuschung hinterlässt „Shutter Island“ von Martin Scorsese (67). Mit seinem Stones-Film „Shine a Light“ rockte er 2008 Berlin. Mit Publikumsdarling Leonardo DiCaprio hat Scorsese unter anderem nach dem Oscarhit „Departed“ (2006) nun schon zum vierten Mal gearbeitet.

Vielleicht sind es die Erwartungen an „Shutter Island“, die einen nach permanenten Bildüberflutungen und Horrorszenarien so ratlos zurücklassen. Nach 138 Minuten auf falschen Fährten, zwischen Rätseleien, Verschwörungstheorien und sich verselbständigenden Traumsequenzen ist man, wie geplant, zwar überwältigt, aber auch müde übersättigt.

In Polanskis Fußstapfen

Die Story spielt zur Zeit von McCarthys staatlich sanktionierter Kommunistenhatz. Und sie beginnt, wie Polanskis „Ghostwriter“, auf einer Fähre an der sturmumtobten US-Ostküste. Ein Marshall (DiCaprio) und sein neuer Partner (Mark Ruffalo) sind unterwegs zur Gefängnisinsel Shutter Island, wo geisteskranke Gewalttäter verwahrt und mit Foltermethoden „betreut“ werden von einem geheimnisvollen Professor (Ben Kingsley). Einer hochgefährlichen Kindsmörderin ist die Flucht gelungen, die Cops sollen ermitteln. Aber der Marshall selbst verhält sich zunehmend schizophren, wird von Traumata geplagt.

Mit glühendem Anspruch kommt die Bollywood-Produktion „My Name Is Khan“ (Berlinale-Special) von Karan Johar daher. Indiens Superstar Shah Rukh Khan versucht 165 Minuten lang, die Welt besser zu machen. Als indischer Moslem ist er ausgerechnet zur Terror-Schockstarre nach dem 11. September nach San Francisco ausgewandert. Da er am Asperger-Syndrom – eine leichte Autismusform – leidet, was seine Kommunikationsart seltsam macht und ihn bei der Farbe Gelb rot sehen lässt, erlebt er sein blaues Wunder. Das Farbspiel sei erlaubt bei dieser liebenswürdigen Kitsch-Attacke. Khan reist durch die USA, verkündet mantraartig, sein Name sei Khan und er sei kein Terrorist und bekehrt selbst Rassisten mit seiner Mission gaga. Das Ende ist happy, dazu Tanz, Musik, rührende Völkerverständigung in teuren Kulissen.

Sozialdrama aus Dänemark

Ganz leise, umso eindringlicher appelliert der einstige dänische „Dogma“-tiker Thomas Vinterberg („Das Fest“) an ein Miteinander in einer sozial kalten Welt. Sein Familiendrama „Submarino“ (der Titel erinnert an die Foltermethode, Menschen den Kopf bis zur Ohnmacht unter Wasser zu drücken) ist eine Entdeckung zum 60. Berlinale-Jubiläum.

Nach ihrer horriblen Kindheit haben zwei Brüder sich verloren. 20 Jahre später begegnen sie sich wieder. Nick, der Kraftkerl mit verschütteter Seele und Säufer, hat schon immer versucht, den jüngeren, sensibleren Bruder zu beschützen. Der ist nach dem Tod seiner Frau alleinerziehend und zum Junkie herabgesunken. Nach Augenblicken der Hoffnung werden beide von der Vergangenheit eingeholt. Dieser unprätentiös genaue Film mit bis in Nebenrollen großartigen Schauspielern, lakonischen Dialogen, subtil beobachteten Szenen brennt sich ins Gedächtnis. Das ist es, was man ersehnt, auch wenn man weinen möchte. Jetzt wartet ein neuer Beitrag vom Star-Chinesen Zhang Yimou. „Eine Frau, eine Waffe und ein Nudelgeschäft“ soll ein Remake des frühen Coen-Films „Blood Simple“ sein. Also doch wieder Gewalt, Depression und Paranoia? Und Jo Baiers Historienfilm „Henri 4“ wurde mit Buhs und „Drecksfilm“-Rufen weggefegt. Baier („Stauffenberg“), der am Premierensamstag seinen 61. Geburtstag feierte, hatte den Film als „ größtes Filmabenteuer“ seines Lebens bezeichnet.

Angie Dullinger

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