Tim Marshall "Die Macht der Geographie" - die AZ-Kritik

Wie Putin eine Pizza zerlegt: Das Buch „Die Macht der Geographie“ versucht die Weltpolitik mit der Hilfe von zehn Karten zu erklären
Hierzulande hat der Begriff „Geopolitik“ einen eher strengen Beigeschmack. Man denkt schnell an Parolen wie „Volk ohne Raum“. Der Münchner Uni-Professor Karl Haushofer machte 1918 daraus eine „Deutsche Wissenschaft“, die Argumente für eine aggressive Außenpolitik in Richtung Osten liefern sollte.
Im englischen Sprachraum gehören geopolitische Überlegungen zum normalen politischen Diskurs. Das Buch des britischen Journalisten Tim Marshall liefert eine gute Zusammenfassung dieser Denkrichtung. Es versucht – nicht ohne eine leichte Großmäuligkeit – die Weltpolitik anhand von zehn Karten zu erklären.
Vieles, was Marshall schreibt, leuchtet ein. Russland, so seine These, hat eine nach Westen offene Grenze. „Wenn Putin nicht über Gott und die Berge nachdenkt, denkt er an Pizza“, so der Autor. „Genauer, an die Form eines Pizzastücks“. Das Stück heißt Polen: Es liegt am Ende der norddeutschen Tiefebene, über die 1605, 1708, 1812, 1914 und 1941 Armeen gegen Russland vorgerückt sind.
Aus diesem Grund sehen die Russen die Nato-Mitgliedschaft Polens kritisch. Und noch empfindlicher reagiert die einstige Weltmacht, wenn sich die noch näher gelegene Ukraine dem Einfluss zu entziehen versucht.
Marshall argumentiert gern staubumtost, ein bisschen wie Peter Scholl-Latour im Khakianzug und dem Gestank lärmender, startender Kampfhubschrauber als Hintergrundgeräusch und Parfüm. Er versteht Politik primär als Kampf um Territorien, Einflusszonen und Ressourcen.
Und da schaut es noch weiter im Osten für Russland eher schlecht aus: „Noch wahrscheinlicher ist, dass die leeren, sich entvölkernden Landstriche des russischen Fernen Ostens unter eine chinesische kulturelle und schließlich politische Oberherrschaft geraten.“
Mit bisweilen erfrischend zynischem Realismus spricht Marshall auch offen aus, warum die „europäische Vormacht Deutschland“ auf russische Aggressionen in der Ukraine und auf der Krim so nachsichtig reagiert: Wir sind von den Gaslieferungen abhängig und wollen auch im Winter warme Wohnungen.
Marshall beschreibt, wie Europa von seinen fruchtbaren Tiefebenen und schiffbaren Flüssen geprägt ist und wie wichtig diese Flüsse für die Entwicklung Afrikas wären, wo sie ebenso fehlen wie gute Häfen. Er erinnert daran, wie sehr die USA geradezu schamlos von der Natur begünstigt sind. Und auch sein Argument leuchtet ein, dass der Himalaya einen Krieg zwischen China und Indien verhindert. Diese gute Nachricht ist allerdings eine schlechte für Fans einer Unabhängigkeit von Tibet: Dieses Hochland ist, ähnlich wie die Ukraine, eine geostrategische Pufferzone des größeren Nachbarn – in dem Fall China. Das nicht grundlos seinen Einfluss dort stetig ausbaut.
Regierungen kommen und gehen, der Hindukusch bleibt
Die geografische Begründung der anhaltenden Unterentwicklung Südamerikas leuchtet ein: Die Anden durchschneiden den Kontinent, und in Brasilien behindert der Große Steilabbruch den Verkehr zwischen der Küste und dem Inneren des Landes.
In dem langen und vergleichsweise schwachen Kapitel über den Nahen Osten argumentiert Marshall überwiegend historisch. Das Problem des Jordan-Wassers interessiert ihn erstaunlicherweise kaum.
Besser gelungen ist das Kapitel über China, das laut Marshall in Zukunft vor allem seine Seemacht ausbauen wird, um die Handelswege und die Energieversorgung zu sichern. Und er hat wohl auch mit seiner These recht, dass bereicherungswillige afrikanische Potentaten sich eher dieser aufstrebenden Großmacht zuwenden werden, weil diese vor allem an Geschäften interessiert ist und nicht über Menschenrechte redet.
Marshall denkt in den Kategorien klassischer Nationalstaaten. Das ist ein bisschen altmodisch. Den menschlichen Faktor unterschätzt er. Geografie ist für ihn ein wenig wie Gott – die letzte aller Begründungen, hinter der nichts mehr kommt. Allzu oft zieht er triumphierend jenen Joker aus dem Ärmel, der auf der Rückseite des Umschlags prangt: „Regierungen kommen und gehen, der Hindukusch bleibt“.
Das ist manchmal ärgerlich simpel. Aber es ist ein produktiver Ärger, der einen zum politischen Widerspruch anregt.
Tim Marshall, „Die Macht der Geographie“ (dtv, 304 Seiten, Abb., geb., 22,90 Euro