Syberbergs Filmessay "Demminer Gesänge"
Können Orte traumatisiert sein? Die Stadt Demmin ist eine Hansestadt in Vorpommern, westlich von Usedom, mit rund 10 000 Einwohnern. Der Filmemacher, Reporter, Essayist Hans-Jürgen Syberberg wurde hier 1935 geboren. Er arbeitet sich seit einigen Jahren am Ort seiner Kindheit ab: aber im konstruktiven Sinne. Denn er versucht, dieser versehrten Stadt wieder mehr Leben zu schenken.
Aber was ist hier geschehen? Marschall Schukow hatte mit seinen Sowjettruppen die Stadt Ende April 1945 eingenommen, wo sich neben den damals 15 000 Einwohnern auch mehrere Tausend Flüchtlinge aufhielten. Dann vollzog sich am 1. und 2. Mai einer der größten Massensuizide durch Erschießen, Ertränken, Vergiften und Selbstmordattentate auf Sowjetsoldaten. Geschätzte 1000 Zivilisten nahmen sich das Leben. Ende des Krieges war nahezu die gesamte Innenstadt zerstört - inklusive Brückensprengungen durch die Wehrmacht. Die weitere Zerstörung fand in der DDR statt. Anstatt auf historischen Strukturen aufzubauen, wurden Plattenbausiedlungen errichtet, die - neben Brachen - Demmins Mitte prägen.
Für Hans-Jürgen Syberberg ist Demmin eine persönliche, geschichtliche, ästhetische Wunde, die ihn mit seinen heute 88 Jahren immer noch schmerzt, aber vor allem auch aktiviert. Er hat über diese Stadt und ihre Zusammenhänge einen großen Filmessay geschaffen, der am Sonntag im Werkstattkino gezeigt wird. Die Berlinale hatte seine "Demminer Gesänge" noch abgelehnt - vielleicht weil Syberberg politisch nicht korrekt ist und ein Konzert des wegen Putinnähe in Ungnade gefallenen Dirigenten Valery Gergiev eingebaut hat.
Für Münchner gibt es weitere Bezüge - neben der Tatsache, dass Syberberg auch am Englischen Garten wohnt. Der Oberpfälzer Architekt Peter Haimerl, der schon das Dorf Blaibach mit einem Konzertsaal beglückt hat, hat für Demmin ein Innenstadtprojekt entwickelt, das dem im Inneren zerstörten Ort eine neue Mitte schenken würde. Haimerl hat gerade für die Münchner Genossenschaft Wogeno ein Wabenhaus entworfen und den Forstenrieder Derzbachhof mit einer Sanierung vor dem endgültigen Verfall gerettet. Sein Vorschlag für Demmin ist auch Teil des Films. Denn Syberberg ist im Herzen immer Demminer geblieben.
"Nicht nur kaufen, sondern auch sein"
2017 hat er das restlos vernichtete Gebäude des Café Zilm am Marktplatz in Originalgröße als auf Stoff bedruckte Fassade wieder aufleben lassen und das mit einem zweiwöchigen Volksfest begangen. Hier wurden Filme gezeigt, gesungen, diskutiert und Kaffee ausgeschenkt. Es war das Gegenteil der Idee der Berliner Stadtschlossfreunde, die jahrelang mit einer Fake-Fassade erfolgreich Geld sammelten. Denn Syberberg geht es nicht um Großprojekte oder Einkaufszentren, sondern um ein städtisches Forum, um die Idee, durch künstlerische Interventionen den zentralen Marktplatz als Gemeinschaftsort wiederzubeleben. "Nicht nur kaufen, sondern auch sein" ist eine Schlüsselzeile des dreistündigen Dokumentarfilms - und von Syberbergs Anliegen, seiner Ästhetik, seiner Denkart.
Die Haltungen Syberbergs war nicht immer unumstritten. Nach seinem Film über Ludwig II. ("Requiem für einen jungfräulichen König", 1972) widmete er sich Karl May (1974) und Hitler (1977). Sein fünfstündiges Interview mit Winifred Wagner (1975) über die Verstrickungen der Wagner-Familie im Nationalsozialismus bezog für viele nicht hart genug Stellung gegen die NS-Zeit.
Am 17.12., 15.30 Uhr (zwei Teile mit Pause), Werkstattkino, Fraunhoferstraße 9, mit Gespräch mit Hans-Jürgen Syberberg
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