Struwelpeters Schuld: "Das weiße Band"
Backsteinhäuser, ein Dorfanger, Hunde, Hühner, Wiesen, Felder, Wälder und Wolkenweite in sommerlicher Hitze. Es ist eine Idylle – wie von Fontane gezeichnet, gruppiert um den Mythos des deutschen Pfarrhauses. Aber „Das weiße Band“ ist ein packend-beklemmender Krimi.
Und der Täter scheinbar grundloser Grausamkeiten wird immer klarer, aber nicht gefasst. Denn es ist das autoritäre Klima des deutschen Wilhelminismus am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Michael Haneke ist ein stilisierender und sezierender Analytiker von Gewalt. Und der scheinbar nette Untertitel „eine deutsche Kindergeschichte" verrät, dass es um die Deformation von Menschen geht durch Erziehung ohne Wärme in einem Moralkorsett ohne Freiräume.
Abendessen im Pfarrhaus: Die Kinder kommen zu spät. „Es schmerzt mich mehr als euch, dass ich euch bestrafen muss“, sagt der Pastor (Burghart Klaußner), schickt die Kinder ohne Abendessen ins Bett und kündigt für den nächsten Abend die moralische Ordnung wiederherstellende Rutenhiebe an. Der Zuschauer wird den Züchtigungsakt nicht sehen, aber zuschauen, wie der Sohn selbst die Rute ins Vaterzimmer holen muss. So ist der Zuschauer bei Haneke psychologischer Betrachter. Die Distanz wird erhöht durch die Schwarz-Weiß-Bilder und eine Erzählerstimme – die des Dorflehrers (Christian Friedel als eine der wenigen warmherzigen Figuren). Dass der Film den Zuschauer gleichzeitig berührt, ist die aufwühlend-aufklärerische Meisterschaft Hanekes.
Überzeugt haben auch deutsche Schauspielgrößen wie Ulrich Tukur als Gutsherr, Joseph Bierbichler als Gutsverwalter – und vor allem Burkhart Klaußner als Pastor, dessen Tragik in der Unfähigkeit zur Liebe besteht, im verinnerlichten Würgegriff autoritärer Erziehung, Prüderie und Härte, die es ja „gut meint“ mit den Kindern im Zeitalter des sadistischen „Struwwelpeter“, des drillenden Turnvaters Jahn und Verbiegungs-Pädagogen Moritz Schrebers. So ist „Das weiße Band“ ein fantastisches, faszinierend genaues Zeitporträt von unheimlicher Dichte.
Aber was geht uns das alles heute an? Wer den Film auf sich wirken lässt, merkt schnell, dass hier mit den Jahren 1913/ 1914 Allgemeingültiges erzählt wird: Wie Ideologien zu „Neid, Stumpfsinn und Brutalität“ führen, wie sie die Baronin spürt und nicht mehr mitmacht. Denn natürlich gibt es in jeder Zeit neben Verhärtung auch liebende Gegengestalten.
Adrian Prechtel
Kino: City, Filmcasino, Münchner Freiheit, Kino Solln R & B: Michael Haneke