Sterne des Jahres: Die Preisträger im Überblick

Kunst braucht Raum - und den hat München trotz einiger Interimslösungen und kommenden Großbaustellen doch noch, so dass sich Theater, die Bildende Kunst, Kino und Literatur entfalten können. Wie vielfältig das kulturelle Leben der Stadt ist, kann man auch an unseren "Sternen des Jahres" sehen, zu deren Kür sich die gesamte Kulturredaktion zusammensetzt und diskutiert hat. Und am Ende staunen wir selbst wieder, was uns da alles Interessantes, Wichtiges, Belebendes begegnen kann, wenn man teilnimmt.
So sind die "Sterne" immer auch Anregung, öfter mal vorbeizuschauen, wo Kultur gemacht wird in unserer Stadt. Manches ist ja noch im Spielplan oder kann besucht, gesehen, gehört, mitgedacht oder gekauft werden. Und wir werden auch 2024 wieder für uns alle die Augen offen halten.
Ausstellung: "Kein Puppenheim"
Die Kooperation war nicht unbedingt naheliegend, aber umso eindrücklicher: die aufregende, irritierende und erhellende Ausstellung "(K)ein Puppenheim - alte Rollenspiele und neue Menschenbilder" im Münchner Stadtmuseum, ein Parcours überwiegend ernster Spiele, ergänzt durch Gegenwartskunst aus der Sammlung Goetz.
Da traf sich Surreales und Alltägliches, Volkstümliches und Pornografisches. Zwischen Kasperlbühne und Theatrum Mundi, Jahrmarkt-King-Kong und Horror-Clown wurde die Ambivalenz alles Puppenhaften skulptural, malerisch und (foto-)grafisch ausgereizt, und der Mensch erschien in seiner ganzen Seltsamkeit. Dank der Experimentierfreude der Kuratoren profitierten alle Seiten: Die historischen Objekte wurden ins Heute geholt, und es ergaben sich neue Bild- und Sinn-Verwandtschaften.
Schauspielerin: Annette Paulmann

Lena Christ und Annette Paulmann haben einiges gemeinsam: Beide wuchsen in einer Wirtshausfamilie auf, beide litten unter den Gewaltausbrüchen ihrer Mütter - und beide verarbeiteten diese traumatischen Erfahrungen künstlerisch. Lena Christ in ihren "Erinnerungen einer Überflüssigen", Annette Paulmann in ihrem Solo "Fünf bis sechs Semmeln und eine kalte Wurst", das sie im Werkraum der Kammerspiele inszenierte und spielt.
Sie verknüpft eigene Erinnerungen mit denen von Lena Christ, wagt sich weit vor ins Persönliche und schafft doch einen exemplarischen Abend. Sie springt in ihren Erzählungen hin und her zwischen diesen beiden Leben, die zeitweise beinahe zu einem verschwimmen. Es ist das bewegende Regiedebüt einer großartigen Schauspielerin. Einer, der man in ihrer Wandlungsfähigkeit, ihrer Präsenz und ihrem Gefühl für Stimmungen in jeder Sekunde gerne zusieht. Glücklich ein Theater, das eine wie sie in seinem Ensemble hat!
Musiktheater: "Die Zauberflöte"

Neuinszenierungen der "Zauberflöte" müssen unmögliche Erwartungen erfüllen. Sie dürfen an Kindheitserinnerungen älterer Besucher nicht enttäuschen, sollten aber spannend genug sein, um jüngere Besucher nicht zu verschrecken. Josef E. Köpplinger hat es im Gärtnerplatztheater geschafft, eine im besten Sinn familientaugliche Aufführung dieser Oper herauszubringen, die Erst- und Vielseher durch ein hohes Erzähltempo mitnimmt. Der neue Chefdirigent Rubén Dubrovsky kann da mühehlos mithalten, das seit Jahren exzellente Hausensemble ohnehin.
Künstlerin: Keiyona Stumpf

Gehört das nicht dazu? Ist dieses schäumende Gebilde ein Meereswesen, ein Seestern, Oktopus oder doch eher eine Rocaille? Vor den Arbeiten von Keiyona Constanze Stumpf gerät man in einer Tour ins Fantasieren und Assoziieren. Das ist die besondere Qualität dieser Kunst aus Porzellan, Kunststoff, Glas oder Papier, die unendlich viel erzählt und doch stumm und allenfalls im Ungefähren bleibt. Damit hat die Absolventin der Münchner Kunstakademie die barocken und die Renaissance-Werke im Bayerischen Nationalmuseum mächtig in Schwung gebracht. Im Beispiel oben wirkt ihre Plastik "Shrine" wie der Tafelaufsatz für das Meißner Porzellan mit Augsburger Golddekor. Fulminant!
Pop: Angela Aux

Das fünfte Album von Angela Aux, "Instinctive Travels On The Paths Of Space And Time", ist Teil einer Trilogie mit Roman und Theaterstück. Darin wird nach der Apokalypse auf die Menschheit zurückgeblickt, aus der Sicht von Maschinen. Das ist viel komplizierter, als es zunächst klingt, doch das ist egal: Denn die Musik kann für sich stehen - und ist beeindruckend. Weil es um Mensch und Maschine geht, darf auf dem Album auch letztere mittun: Aux hat viel gesampelt und programmiert, und das fügt sich bestens in seinen klassischen Pop-Sound. Und der Song "Yesterday" ist so traumhaft schön, dass Aux ihm den Titel eines Beatles-Klassiker verpassen kann, ohne dreist zu sein.
Ein neuer Giorgione

Zuweilen ist es gar nicht verkehrt, sich von einem Blick einfangen zu lassen. Selbst wenn ein älteres Mannsbild unverfroren über die Schulter schaut. Johanna Pawis - noch keine 30 - war jedenfalls angetan und ging einem Doppelporträt auf den Grund, das unbeachtet in der Residenz hing. Die Kunsthistorikerin wühlte sich durch italienische wie bayerische Archive und fand nicht nur heraus, dass es sich um den Universalgelehrten Giovanni Borgherini und seinen Schüler Trifone Gabriele handelt, sondern der geniale Giorgione das Bild gemalt haben muss. Man darf das mit der Entdeckung eines Vermeer vergleichen. Wir ziehen beeindruckt den Hut und freuen uns auf den nächsten Coup.
Schauspieler: Silas Breiding

Szenenapplaus ist bei Schauspielaufführungen eher unüblich. Aber Silas Breiding riss mit einer akrobatischen Pole-Dance-Nummer zu schmelzenden Popsongs das Premierenpublikum im Volkstheater zu spontanem Beifall hin, als sei er ein Helene-Fischer-Double.
Silas Breiding spielt die Gnädige Frau in "Die Zofen" von Jean Genet, der sich vorstellte, dass das Damen-Trio von Männern gespielt werden sollte. Das trauten sich nur wenige Theater, aber ohne Charleys-Tante-Klamauk das Weibliche im männlichen Körper zu entdecken, gelang in der Inszenierung von Lucia Bihler mit den Mitspielern Lukas Darnstädt und Jakob Immervoll außerordentlich sehenswert.
Silas Breiding jedenfalls sorgte als Pariser Großbürgerin mit dem Traum, eine große Diva auf der Showbühne zu sein, für einen frühen Höhepunkt der laufenden Theatersaison 23/24.
Klassik: Joseph Bastian

Sieben Jahre ist es her, dass Joseph Bastian kurzfristig als Dirigent einsprang - und das bei seinem eigenen Orchester, dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, dem er damals noch als Bassposaunist angehörte. Aufbruchsstimmung lag in der Luft, es war klar, dass hier eine Karriere begonnen hatte. Der gebürtige Franzose hatte damit beeindruckt, dass er sein Debüt gerade nicht dafür nutzte, zu zeigen, was er alles kann, sondern souverän die Musik aus sich heraus entstehen ließ.
Seit seinem sensationellen Debüt ging es stetig bergauf, Gastspiele führten ihn mittlerweile bis nach Asien, aber immer wieder auch zurück in die Wahlheimat. Seit Beginn dieser Saison ist Joseph Bastian Chefdirigent der Münchner Symphoniker, die schon bei seinem Einstand über sich hinauswuchsen. Nicht nur programmatisch.
Kabarett: Suchtpotenzial

Feminismus ist nicht immer ein Quell intelligenten Frohsinns, doch bei Ariane Müller und Julia Gámez Martin entfaltet Frauenpower genau das, was der Name des Duos verspricht: "Suchtpotenzial". Dabei sind sie sich nicht immer einig. Ihre giftsprühenden Frotzeleien von Frau zu Frau sind der Markenkern der Band. Zum zehnten Bühnenjubiläum laden sie zum "Bällebad forever". Ihre Songs sind nicht immer jugendfrei, aber hochklassig arrangiert und gesungen. Sowohl Grenzen musikalischer Genres als auch die Grenzen des so genannten guten Geschmacks werden nicht brutal niedergerissen, sondern, um es mit Karl Valentin zu sagen, nicht einmal ignoriert. Selbstbewusst fordert Suchtpotenzial mit einer etwas anderen feministischen Hymne die totale Gleichberechtigung: "Männer, wir sind genau so Scheiße wie ihr!"
Theater: Philipp Stölzl

Identitätspolitik ist ein heftig umstrittenes Feld. Vom Kampf um Selbstbestimmung mit Leichtigkeit zu erzählen, ja, das ist nicht leicht, aber Philipp Stölzl gelang das ganz wunderbar mit seiner Inszenierung von "James Brown trug Lockenwickler" im Residenztheater.
Das neue Stück von Yasmina Reza brachte er mit einem großartigen Ensemble zur Uraufführung, mit Vincent zur Linden als Jacob, der überzeugt ist, Céline Dion zu sein, und Johannes Nussbaum als Philippe, der sich für eine Person of Colour hält. Lisa Wagner feierte ein herrliches Resi-Comeback als spleenige Psychologin, während Juliane Köhler und Michael Goldberg anrührend Jacobs um Verständnis ringende Eltern geben. Der Abend schwebt gekonnt zwischen Humor und Tragik, ist in jeder Beziehung taktvoll. Wie hochmusikalisch und emotional mitreißend Stölzl inszenieren kann, durfte man Ende des Jahres noch ein zweites Mal, mit "Andersens Erzählungen" erleben.
Kino: Das Lehrerzimmer

Man stelle sich ein psychologisches Schuldrama vor, in dem jeder immer nur das Beste will - und doch alle eine Abwärtsspirale befeuern. Dabei sind alle so glaubwürdig und gleichzeitig suggestiv gezeichnet zwischen Typus und Individuum, dass wir sie alle verstehen und sogar zu kennen meinen. Es geht um richtig und falsch, um Vorurteile, Moral, Gerechtigkeit und vor allem um zerstörtes Vertrauen und Klassenzusammenhalt - und das alles ohne Täter im Umfeld von Untersuchungen zu Diebstählen an einer Schule: im "Lehrerzimmer"! Im Zentrum steht eine Lehrerin, die Leonie Benesch (Foto: Alamode) in einer flirrenden Komplexität spielt, dass man völlig gebannt ist. Sie ist eigentlich eine ideale Lehrerin und dann doch wieder gefährlich prinzipientreu.
Regisseur Ilker Çatak hat mit seinem Drama einen der besten deutschen Filme gedreht - und es wundert daher nicht, dass er nach vielen Preisen auch noch im Oscarrennen gelandet ist.
Sachbuch: Ilko-Sascha Kowalczuk

Biografien sind ein schwieriges Feld. Allzuoft schwappt die Begeisterung des Biografen über, allzuoft tritt Spekulation und Einfühlung an die Stelle der Fakten. Ilko-Sascha Kowalczuk hat eine monumentale Biografie über Walter Ulbricht begonnen, die trotz ihres Umfangs auch hin und wieder zugibt, etwas nicht zu wissen.
Der Erbauer der Berliner Mauer war kein Staatsmann der Herzen. Sympathisch wird er einem in diesem Buch, das sich streng an belegbare Fakten hält, nie. Der Autor erzählt nebenbei auch die trübe Geschichte des deutschen Kommunismus, der bald nach der Revolution auf verderblichste Art eine moskautreu und moskauhörig wurde. Ulbrichts Flucht vor den Nazis führte ihn nach Moskau, wo er Stalins Terror überlebte. Dann enttäuschte ihn der Nichtangriffspakt der beiden Diktatoren, der für die Exilierten langfristig lebensgefährlich war.
Die für Historiker geschriebene, aber trotz des monumentalen Umfangs auch für Laien gut lesbare Biografie (C.H. Beck, 1006 S., 58 Euro) endet mit Ulbrichts Ankunft im zerstörten Berlin. Die Rolle dieses sehr "deutschen Kommunisten" in der DDR erzählt der zweite Band, der bald erscheinen wird.
Jazz: Lightville

Sie sind das Power-Paar der Münchner Jazz-Szene: die aus der Mongolei stammende Pianistin und Komponistin Shuteen Erdenebaatar und der Bassist, Multi-Instrumentalist und Komponist Nils Kugelmann. Beide haben heuer aufsehenerregende Debüt-Alben (er: "Stormy Beauty", sie: "Rising Sun") veröffentlicht, auf denen sie Leidenschaft, Herz, Verstand, Fantasie, Empathie und eine für ihr Alter frappierende Reife verraten. Beide sind deutlich unter dreißig. Sie leitet auch ihr neu gegründetes 20-köpfiges und genreübergreifendes Chamber Jazz Orchestra. Diesen Zwei, die in verschiedenen Konstellationen - unter anderem als Duo "Lightville" - aufregend und anregend musizieren, gehört die Zukunft.