Sterbende Seekühe und der unbezähmbare Lachhund
Axel Hacke erzählt, was man auf Lesereise erleben kann und warum ruinierte Aktionäre der Alptraum für einen berühmten Autor sind
Vor 18 Jahren ist mein erstes Buch erschienen, seitdem lese ich öffentlich aus meinen Büchern vor, anfangs seltener, heute öfter. Für dieses Jahr sind 75 Lesungen geplant. Das wird mein persönlicher Rekord, es sei denn, ich bekomme die Schweinegrippe, dann schaffe ich's nicht.
Ich war schon überall, las in Schongau, Groß-Umstadt und am Berliner Ensemble, im Züricher Schauspielhaus und am St.-Pauli-Theater, in der Erfurter Oper und dem Cuvilliés-Theater, auf einem Rhein-Schiff bei Speyer, und auf der MS Europa las ich auch, auf hoher See zwischen den Inneren und den Äußeren Hebriden war das.
In Hattingen an der Ruhr las ich mal in der Lehrküche der Volkshochschule. Das Publikum saß auf Herdplatten. In den Pausen entlockte ein Musiker seinem Saxofon Improvisationen à la „Sterbende Seekühe".
In Braunschweig las ich in der über vier Etagen offenen Halle einer ehemaligen Zuckerfabrik, als sich oben ein gläserner Fahrstuhl in Bewegung setzte. Er hielt auf der Bühne. Ihm entstieg eine türkische Putzfrau, die mit Eimer und Scheuerbesen vor mir über die Bühne ging, ohne sich im Geringsten um die Veranstaltung zu kümmern.
In Berlin las ich zu Anfang meiner Laufbahn vor fünf Gästen, vier davon waren mit mir verwandt. Ich las einen Text, in dem es heißt: „Onkel Heinz war schon tot." Ich las den Satz, blickte auf und sah ins Gesicht meines Onkels Heinz. Er wirkte irritiert.
Das war in den mühsamen Anfangsjahren. Onkel Heinz lebt immer noch, aber die Säle sind nun voll, Gott sei Dank.
Ich habe immer gerne vorgelesen. Ich finde es großartig, auf eine Bühne zu kommen und einen Saal voller Leute zu sehen, die meine Geschichten hören wollen. Nur manchmal, am vierten Abend, habe ich keine Lust mehr, sitze in der Garderobe, säße gerne daheim und würde bloß meiner jüngsten Tochter vorlesen.
Dann, draußen vor den Leuten, gefällt es mir wieder.
Was ich nicht leiden kann: Wenn während meiner Lesung der Buchhändler gepfändet wird. Ist aber mal passiert, in Wien. Ich las, als ich im Rücken des Publikums drei Herren das Geschäft betreten sah. Sie sahen aus wie Vertreter des Veranstaltungssponsors, einer Versicherung. Aber zuhören wollten sie nicht, verwickelten den Buchhändler in eine leise, erregte Diskussion. Mehr sah ich nicht, ich musste lesen.
Als das Publikum gegangen war, erklärte mir der Buchhändler, er sei gerade vom Gerichtsvollzieher gepfändet worden, habe sich vor Monaten von einer Freundin Geld geliehen, dann aber von der Freundin getrennt, fahrlässig, wie man nun sah, denn die Frau verlangte gekränkt ihr Geld zurück. Als sie es nicht bekam, ließ sie es eintreiben. Der Buchhändler sagte, er sei so geistesgegenwärtig gewesen, meine Gage in Dan Browns neuestem Wälzer zu verbergen, aber diesen Trick habe der Gerichtsvollzieher gekannt, denn kaum habe er, der Buchhändler, das Geld dem Brown entnommen, sei der Kassier wieder in der Tür gestanden und habe auch dieses Geld eingezogen. Jedenfalls musste ich den Buchhändler zum Essen einladen.
Die schrecklichste Lesung meines Lebens? Im Münchner Literaturhaus. Ein Internet-Buchhändler hatte mich gebeten zu lesen, „so zwei, drei Geschichten in Ihrer gewohnt heiteren Weise", als Auftakt zur Aktionärs-Versammlung.
Da stellte ich mich vor die Leute, neben den Vorstands-Tisch und las in gewohnt heiterer Weise, während das Publikum in ungewohnter Weise schwieg. Auch an Stellen, an denen immer, selbst in der Oberpfalz, gelacht wird, schwieg dieses Publikum geradezu aggressiv – worüber ich (gewohnt heiter, doch schwitzend) zunächst einfach hinweg las. Bis aus dem Publikum Rufe wie „Wollen Sie uns verarschen?" herauf schallten, Rufe, die ich, nun schon sehr viel stärker schwitzend, immer noch ignorieren zu können glaubte. Dann rief jemand: „Schluss! Schluss!"
Und ich, nun bereits in Schweiß gebadet, erkundigte mich nicht etwa beim Rufer, was ihn errege, nein, ich las mit nun schon von Schweiß erstickter Stimme so heiter wie möglich weiter, zog die Sache durch bis zu einer in jedem Saal des Landes (nicht jedoch hier) bejubelten Schlusspointe, während derer ich meine Unterlagen zusammen raffte und aus dem Saal flüchtete, vor die Tür, wo mir jemand erklärte, dass der Börsenkurs des Internet-Buchhändlers gerade auf hyporealestatehafte Weise abgerutscht war.
So dass ich also vor Leuten gelesen hatte, die große Teile ihres Vermögens verloren hatten und durch nichts oder allenfalls durch größere Geldge-schenke zu erheitern gewesen wären.
Vor acht Jahren hatte ich übrigens mal eine Rolle als lesender Autor in Polizeiruf 110. Meine Aufgabe war, in einem Grünwalder Salon zwanzig gut gekleideten Herrschaften einen Ausschnitt aus einem Text vorzutragen. Die Leute sollten sich darüber amüsieren. So sah es das Drehbuch vor.
Das Problem war, dass ich nur diesen Ausschnitt las, der für sich genommen nicht lustig war; er war es nur im Zusammenhang des Gesamt-Textes, den die Schauspieler aber nicht kannten.
Der Regisseur ließ mich, während ich wieder und wieder las, aus allen denkbaren Perspektiven filmen, etwa fünfzig Mal. Dann begann er, das Publikum filmen zu lassen, während es lauschte. Die Leute machten Mienen, als trüge ich Schopenhauer vor. Sofort herrschte der Regisseur sie an, der Text sei lustig, sie sollten gefälligst lachen.
„Was soll daran lustig sein?!", rief einer.
„Keine Ahnung", sagte der Regisseur. „Steht im Drehbuch."
„Und wenn ich den Text einmal ganz lese?", sagte ich leise. „Damit Sie den Zusammenhang....?" „Meinetwegen", sagte der Regisseur und schaute auf die Uhr.
Ich las. Die Leute lachten, aber sie wurden dabei nicht gefilmt. Als man die Kamera wieder anknipste, musste ich meine Sätze weitere fünfzig Mal lesen. Die ersten zehn Male lachten die Leute echt, dann lachten sie unecht, dann verzweifelt, dann wie von Hass erfüllt. Die letzten zehn Male wurden sie von hinten gefilmt, während ich vor ihnen stand und las. Sie bewegten nur noch ihre Schultern auf und ab wie Lachende. Ich blickte in Gesichter, in die eine einzige Frage gemalt war: „WANN GIBT ES MITTAGESSEN?"
Die schönste Lesung? Auch in München, im Schlachthof: diese eine, bei der ich vom Lachen des Publikums so angesteckt wurde, dass ich selbst lachen musste, zuerst nur ein bisschen, dann so sehr, dass ich aufhören musste zu lesen. Ich saß auf der Bühne vor 400 Leuten und lachte. Versuchte immer wieder, mein Lachen nach unten zu stopfen, aber es ging nicht.
Dem Publikum genoss die Show eines mit sich ringenden Autors. Es war außer sich vor Freude. Es lachte nicht mehr über den Text, sondern nun über dessen selbstvergnügten Verfasser – was mich in eine desolate Lage brachte. Ich rang vor allen Leuten mit meinem Lachen wie mit einem spielenden Hund, bekam ihn ab und zu in den Griff, bis der sich wieder entwand, nahm den Lachhund erneut in den Schwitzkasten, konnte ihn aber nicht halten. So ging das minutenlang. Ich trank Wasser, versuchte an Trauriges zu denken, ging hinter den Vorhang, schimpfte mit mir selbst, trat wieder nach vorn, bis ich mich irgendwann beruhigt hatte.
Es war peinlich, unwürdig, unprofessionell, und es ist das Letzte, dass ich das hier auch noch erzähle. Aber, pssst: Es war super....
Axel Hacke