„Sterbehilfe ist die Avantgarde“

Martin Walser macht sich in seiner neuen Novelle „Mein Jenseits“ Gedanken über die Endlichkeit und erzählt im Interview, warum auch er eine Patientenverfügung unterschrieben hat
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Martin Walser macht sich in seiner neuen Novelle „Mein Jenseits“ Gedanken über die Endlichkeit und erzählt im Interview, warum auch er eine Patientenverfügung unterschrieben hat

Martin Walser (82) hat eine neue Novelle mit dem Titel „Mein Jenseits“ (bup, 132 Seiten, 19.90 Euro) vorgelegt. Das Buch ist als Nebenwerk bei der Arbeit an seinem großen Roman „Muttersohn“ entstanden, der 2011 bei Rowohlt erscheinen soll. In der Novelle erzählt der Held Augustin Feinlein, Chef eines Psychiatrischen Landeskrankenhauses, seine Lebensgeschichte, die eine Glaubensgeschichte ist. „Wir glauben mehr, als wir wissen“, lautet sein Credo.

AZ: Herr Walser, Feinlein zählt seit seinem 63. Geburtstag die Lebensjahre nicht mehr. Wie erleben Sie das Älterwerden?

MARTIN WALSER: Ich kann nicht von mir reden, allenfalls von Augustin Feinlein. Der ist tatsächlich von seinem eigenen Alter nicht beeindruckt. Das hat damit zu tun, dass er eine Liebe empfindet und nicht loswird, die 30 Jahre her ist. Diese Liebe zu Eva Maria, die nacheinander mit zwei anderen Männern verheiratet ist, ihm aber in großen Abständen sehr lakonische Grüße schickt – immer „In Liebe“. Aber genauso wichtig ist der zweite Motivbereich: Dass Feinlein der Nachkomme eines Klosterabtes ist. Dieses Kloster hat früher einen regen Reliquienkauf und Reliquienverehrung betrieben. Der Vorfahr hat geschrieben, dass es nicht wichtig ist, ob die Reliquien echt sind. Feinlein glaubt an die Liebe zu Eva Maria so, wie man hier im Land an Reliquien glaubt.

Wieviel Martin Walser steckt in Augustin Feinlein?

Das kann man bei keinem Helden sagen. Ich glaube tatsächlich, dass das Wissen überschätzt wird in seiner Bedeutung für jeden einzelnen Menschen, für sein Innenleben. Die Handlungen, Glück und Unglück eines Menschen werden viel mehr von dem bestimmt, was er glaubt, als von dem, was er weiß. Liebe zum Beispiel ist eine reine Glaubenssache. Man weiß von einem anderen Menschen nicht wirklich etwas. Man glaubt, dass er so und so empfindet. Was da zusammenkommt als Bild von einem Menschen, das lässt sich nicht in mitteilbare Größen aufteilen.

Wie stellen Sie sich Ihr persönliches Jenseits vor?

Das ist glaubensabhängig. Der Glaube ist ein andauernder Prozess, eine andauernd schöpferische Empfindungstätigkeit. Glaube ist Seelenarbeit. Wenn die Seelenarbeit erlischt, dann erlischt man.

Gibt es für Sie ein Leben nach dem Tod?

Die Auferstehungsgeschichte ist nichts als Literatur – das ist allergrößte, allerschönste Literatur. Ich genieße diese Evangelien wie ich Bach, Beethoven oder Mozart genieße. Ich möchte auch ein bisschen von dieser Literatur geschrieben haben, auf meine heutige Art, wie man heute dieser Fassungslosigkeit Tod gegenübersteht.

Haben Sie Angst vor dem Tod?

Tod ist für mich ein Fremdwort. Sterben nicht, das ist das, worauf wir zuleben. In meinem Roman „Angstblüte“ bringt sich der Bruder des Helden um. Ich hasse das Wort Selbstmord: Da läuft die ganze Sprachtradition in eine Sackgasse. Dass man das freiwillige Ende einen Selbstmord nennt, das ist absurd. In 100 Jahren wird man uns zum Mittelalter zählen, weil wir das Aufhören des Lebens der Natur ganz überlassen haben. Da wird es andere Wege geben. Das wird sich entwickeln, und zwar so, dass es dann verständig, akzeptabel und allgemein praktizierbar ist. Sterbehilfe- Organisationen sind die Avantgarde der Zukunft. Immer reden welche, die gerade gar nicht leiden, davon, dass andere das Leiden aushalten sollen. Sie reden vom Leiden wie der Blinde von der Farbe. Dass es Debatten über Sterbehilfe gibt, heißt ja, es gibt eine Entwicklung.

Würden Sie für sich auch Hilfe in Anspruch nehmen?

Die Patientenverfügungen, die festlegen, dass man diese oder jene Behandlung nicht will, sind auch ein Schritt in diese Richtung. Meine Frau hat das schon in die Wege geleitet. Dieser Naturalismus des Sterbens, dass die Leute bis zum Schluss bei Bewusstsein leiden müssen! Unter den Verfechtern des natürlichen Todes gibt es Menschen, die können dazu Stellen aus den Schriften zitieren. Aber das interessiert mich nicht.

Gisela Mackensen

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