Standing Ovations für "Die Wut, die bleibt"
Die Inszenierung beginnt mit dem Ende des Buches. Auf der letzten Seite ihres Romans "Die Wut, die bleibt" springt Mareike Fallwickl noch einmal weit in der Zeit zurück, zu dem Moment, als ihre Protagonistin Helene ihr erstes Kind bekam. Lola ist der Name, den Helene für das Baby ausgesucht hat, er fühlt sich bei der Geburt genau richtig an. Und die von zärtlichen Gefühlen überwältigte Mutter leistet gegenüber ihrem Kind sogleich einen feierlichen Schwur: "Ich werde nie von deiner Seite weichen, Lola. Ich verspreche es."
Auf der Bühne des Landestheaters Salzburg macht Johanna Bantzer aus dieser letzten Seite einen bewegenden Monolog, die atmosphärische Musik von Jörg Kleemann begleitet sie mit leiser Melancholie und man ist sofort in diesem Abend drin. Jetzt folgt der Buchanfang. Die erste Seite wird dabei auf den ersten zentralen Satz verkürzt: "Haben wir kein Salz?" lautet er und führt dazu, dass Helene, die über eine Treppe auf ein Podest mit Wohnzimmerambiente hochgestiegen ist, hinten in die Tiefe springt. Ein abrupter Suizid. Auf die Schilderung der Geburt der Tochter folgt also gleich der Tod der Mutter. Ihr Versprechen an Lola konnte Helene nicht halten, weil sie ihr eigenes Leben nicht aushalten konnte.
Die Inszenierung hat einen weicheren Ton als der Roman
Schon zu Beginn dieser letzten Schauspielpremiere bei den Salzburger Festspielen - eine Koproduktion mit dem Schauspiel Hannover - wird deutlich, dass Regisseurin Jorinde Dröse und Dramaturgin Johanna Vater sich bei ihrer Bühnenfassung von Mareike Fallwickls Roman einige Freiheiten genommen haben. Klar, Verkürzungen und Verdichtungen sind bei Literaturadaptionen notwendig. Aber während der Buchanfang - Helenes Sprung vom Balkon aus der Alltagssituation eines Abendessens mit der Familie heraus - einen Schock setzt, der beim weiteren Lesen stark nachhallt, setzt die Inszenierung durch die Schilderung der Geburt und den verkürzten Buchanfang einen weicheren, etwas verwaschenen Ton.
Dass Helene sich durch die Frage ihres Gatten Johannes nach dem fehlenden Salz indirekt angesprochen fühlte, dass sie in dem Satz einen Vorwurf spürte, der ihr die Situation als Mutter, die hinsichtlich Familienverpflegung und Kinderfürsorge hauptverantwortlich gemacht wird, kondensiert bewusstmachte, wird man in der Bühnenversion erst später erfahren: Wenn der von Max Landgrebe gespielte Johannes sich an diesen fatalen Abend zurückerinnert, sich selbst Vorwürfe wegen dieses einen Satzes macht und Johanna Bantzer als Helene, die als wandelbarer Geist sowohl durch das Buch als auch die Inszenierung spukt, die Perspektive der nervlich zerrütteten Mutter beisteuert.
Mareike Fallwickl, die in Hallein bei Salzburg geboren wurde und heute mit ihrer Familie im Salzburger Land lebt, hat mit ihrem vierten Roman ein wuchtiges, provokantes Manifest gegen die konventionellen Rollenmuster geschrieben. Es ist ein wütender Aufschrei angesichts der in Statistiken erwiesene Tatsache, dass in Familien weiterhin Haushalt und Kinderbetreuung vornehmlich von den Frauen übernommen wird. Großartig Anerkennung bekommen sie dafür nicht, Care-Arbeit wird nicht bezahlt, und die Pandemie, die im Hintergrund des Romans noch wabert, hat die gefühlte Enge sogar verstärkt.
Die Männer dürfen sich hingegen auf die Ausübung ihres Jobs, ihre Selbstverwirklichung konzentrieren und geben die Kinder an die Mütter - oder Ersatzmütter - mit großer Selbstverständlichkeit ab.
Wenn Leon, der junge Lover von Helenes bester Freundin Sarah, mal etwas kocht, erwartet er spürbar Anerkennung für seine Großtat. Fabian Dott streut als Leon noch ein paar romantische Blütenblätter auf die weiße Treppe, die zu dem nüchternen Guckkasten hochführt, der mal Sarahs, mal Helenes Wohnung darstellt (wenig festspielprächtig, aber passend funktional: das Bühnenbild von Katja Haß).
Indem Mareike Fallwickl die beiden Männerfiguren ziemlich gnadenlos als selbstherrliche Typen zeichnet, ergeben sie zu den Frauenfiguren umso treffender einen negativen Kontrast, verkörpern das Patriarchat in schlimmster Reinkultur. Auf der Bühne wirken sie etwas weniger schrecklich, auch da rundet Jorinde Dröse die scharfen Kanten des Romans ein wenig ab. Was die Nähe zu diesen Männern jedoch erhöht: Ganz so leicht kann man sich von ihnen nicht distanzieren.
Fabian Dott ist als Leon ein sportlich-agiler Typ, der sein Ding durchzieht und für die Bedürfnisse seiner Partnerin kein Auge hat. Max Landgrebe als Johannes ist ein luschiger, fast schon sympathischer Geschäftsmann im Anzug. Am Anfang räumt er noch als braver Vater das Spielzeug weg. Schleichend und um Verständnis heischend gibt er dann die Verantwortung - also: den Haushalt, die drei Kinder, die Last des Alltags - an Sarah ab.
Die ist kinderlos, in Trauer, weil sich ihre beste Freundin Helene das Leben genommen hat, und bereit, Johannes in seiner Notsituation kurz mal auszuhelfen, was sich jedoch als Falle erweist, weil die Ausnahme bald zur Regel wird und Sarah immer weiter in die Familie hineingezogen wird. Als Ersatzmutter und Hausfrau kämpft sie plötzlich mit dem Stress, der Helene wohl zum Ärgsten getrieben hat.
Helenes Söhne, der eine vier, der andere eineinhalb Jahre alt, treten in der Inszenierung nicht in Erscheinung, was sicherlich seine Gründe hat - kleine Kinder lassen sich auf der Bühne wohl genauso schwer wie im echten Leben bändigen -, was trotzdem ein Manko ist, weil dadurch Sarahs Zerrissenheit zwischen wachsender Zuneigung, Genervtheit und Erschöpfung erzählte Behauptung bleibt.
Da gestikuliert Anja Herden als Sarah ins Off zu den tobenden Buben hin und muss Überforderung mimen - was sie durchaus gekonnt macht. In jeder Hinsicht handfester ist Sarahs Beziehung zu der fünfzehnjährigen Lola, von Nellie Fischer-Benson als verschlossene, rotzige Teenagerin mit Wut im Blick gespielt. Lola bietet Sarah neunmalklug Paroli, aber sie ist tatsächlich gut informiert, klärt Sarah (und das Salzburger Publikum) auf über die Naturalisierung von Femiziden - Sarah schreibt Krimis, in denen nur Frauen ermordet werden - und die Verirrung, auch der Frauen, in patriarchalische Denkmuster.
Mit ihrer Freundin Sunny (Hanh Mai Thi Tran) lernt Lola zwei junge Frauen (Yasmin Mowafek und Sophie Casna) kennen, die sich viel Körpergewicht zulegen und Muskeln antrainieren, um auf die Gewalt der Männer mit starker Gegengewalt reagieren zu können.
In riskanten Guerilla-Aktionen üben die Vier Vergeltung an männlichen Tätern aus, tragen bunte Pussy-Riot-Masken und entwickeln eine solidarische Kraft, die sich auch in tänzerischer Bewegung ausdrückt (Choreografie: Suzan Demircan).
Gerade die furios-feministische Kampftruppe begeisterte das Salzburger Publikum, das sich zum Schlussapplaus katapultartig von den Sitzen erhob. Die Wut der Frauen, die in Fallwickls Roman allseits kocht und sich gegen Ende selbst bei der zurückhaltenden Sarah in einem Schrei entlädt, macht auch die Inszenierung klar spürbar. Sowie die Trauer, die in der Wut der Hinterbliebenen steckt - gegenüber einer Frau, die sich per Sprung in die Tiefe einer Verantwortung entzieht, die eigentlich geteilt gehört.
Weitere Aufführungen im Salzburger Landestheater: wieder am 23., 24., 25., 28. und 29. August, jeweils 19.30 Uhr, zwei Stunden ohne Pause, www.salzburgerfestspiele.at
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