Springt über den Schatten!
Ob mit oder ohne Thielemann: Münchens Philharmoniker stecken in der Krise. Wir haben neun Vorschläge zu ihrer Zukunft
Der Stadtrat hat am 22. Juli nach langen und schwierigen Verhandlungen fast einstimmig beschlossen, Christian Thielemanns Vertrag nicht über die Saison 2010/2011 hinaus zu verlängern. Kernpunkt des Streits ist die Programm-Hoheit über Konzerte, die nicht vom städtischen Generalmusikdirektor geleitet werden. Nach dem Willen des Orchesters soll sie auf den Intendanten Paul Müller übergehen, weil die bisherige Regelung das Tagesgeschäft erschwerte.
Vielleicht wird im Herbst doch neu verhandelt: Thielemann könnte auf den Titel „Generalmusikdirektor“ verzichten und als Chefdirigent weitermachen. Es könnte ein Direktorium zur Klärung strittiger Fragen gebildet werden. Aus künstlerischen Gründen wäre der Abgang des Dirigenten zu bedauern. Thielemann sollte sich aber auch zu seinen Ambitionen bei der Staatskapelle Dresden erklären. Bisher hat er stets abgelehnt, zwei Orchester zu leiten. Ob mit oder ohne ihn: In den nächsten Jahren brauchen die Philharmoniker ein geschärftes Profil.
1. Konkurrenz
Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks hat die attraktiveren Gastdirigenten: Blomstedt, Haitink, Mehta, Muti, Ozawa, Welser-Möst. Solchen Leuten muss man das klassisch-romantische Kernrepertoire anbieten, das Thielemann eifersüchtiger hütet als der BR-Chefdirigent Mariss Jansons. Aber auch bei jüngeren Dirigenten haperte es zuletzt. Für die langfristige Planung braucht das Orchester einen starken Intendanten, den der Generalmusikdirektor zuletzt schwächen oder gar ganz absägen wollte.
2. Jugend
Einige Musiker engagieren sich bereits privat, aber offiziell geschieht nichts. Der Blick nach Kalifornien könnte anregend wirken: Neben dem San Francisco Symphony Orchestra gibt es seit 1981 das San Francisco Symphony Youth Orchestra. Es besteht aus Schülern, die einmal pro Woche mit den Profis proben. Aus den Schülern wächst das Publikum – und in den USA auch die Sponsoren – von morgen.
3. Aufräumen
„Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“, heißt es in Johann Wolfgang von Goethe „Faust“. Stimmt. Bei den Salzburger Festspielen sorgen Konzertreihen wie „Kontinent Varèse“ oder „Liszt-Szenen“ für den roten Faden. Bei anderen Orchestern gibt es Solisten oder Komponisten „in residence“. Sie bestimmen einzelne Programme. Mit einem aufgeräumteren Gemischtwarenladen lässt sich mehr Publikum jenseits der traditionellen Abonnement-Reihen gewinnen.
4. Über den Tellerrand
Derzeit verfolgt das Philharmonia Orchestra London mit seinem Chefdirigenten Esa-Pekka Salonen neun Monate lang das Projekt „City of Dreams“ mit Musik aus Wien um 1900. Damit verbunden sind Ausstellungen und Vorträge. Wenn in München wieder der „Blaue Reiter“ gefeiert wird, empfiehlt sich ein Blättern im gleichnamigen Almanach: Da ist Musik drin. Warum arbeiten die Philis nicht mit den Museen zusammen? Jetzt spielen ausgerechnet Musiker vom BR-Symphonieorchester in der städtischen Villa Stuck.
5. Bildungsauftrag
Es genügt nicht, Schulklassen einzuladen, man muss in die Schulklassen gehen. Momentan erklärt in den Jugendkonzerten im besseren Fall der Dirigent das Programm. Im schlimmeren heizt eine Dame unter Verweis auf die Weltklasse des Orchesters den Applaus an. Das könnte, wie alle Vermittlung, besser werden: Es gehen nicht nur Experten in Konzerte. In seiner Bochumer Zeit erfand Kulturreferent Hans-Georg Küppers das Projekt „Jedem Kind ein Instrument“.
6. Benehmen
Wenn Thielemann dirigiert, spielen drei Konzertmeister, bei Gästen einer. Die Philharmoniker sind berüchtigt für ihren stoffeligen Umgang mit Gastdirigenten. Das ist weder professionell noch einladend.
7. Tradition
Die Philharmoniker sind stolz auf ihren vibratoreichen, erdigen und dunkel-expressiven Klang. Problematisch daran ist die rückwärtsgewandte Verklärung der Ära von Sergiu Celibidache, der von 1979 bis 1996 als GMD amtierte. Das Beispiel des Bayerischen Staatsorchesters unter Kent Nagano beweist, dass ein Orchester seine klangliche Individualität pflegen und sich trotzdem weiterentwickeln kann. Im Übrigen gehört nicht nur Bruckner, sondern auch Mahler zur Tradition des 1893 gegegründeten Orchesters: Der Komponist selbst leitete hier Uraufführungen seiner 4. und 8. Symphonie. 2011 wird sein 100. Todestag begangen: Hoffentlich denken die Philis darüber nach, wie sie das Jubiläum angemessen feiern.
8. Platten
Unter Philharmonikern gibt es Missmut über die schwache Präsenz auf dem Plattenmarkt. Andere helfen sich selbst: Amsterdams Concertgebouw Orkest und das London Symphony Orchestra haben mittlerweile Eigenlabels. Die Berliner Philharmoniker spielen im Internet. Dahinter stecken Technikfreaks des Orchesters. Übrigens: Auf Homepages amerikanischer und britischer Orchester sind Video-Interviews mit dem Chefdirigenten selbstverständlich.
9. Vision
Die Münchner Philharmoniker sollten nicht warten, dass die Leute zu ihnen kommen, sondern stärker auf ihr Publikum zugehen. Wichtig wäre ein langfristiges Projekt wie das Berliner „Rythm Is It“, mit dem sie wirklich zum „Orchester der Stadt“ werden. Dafür braucht es aber einen Chef, der sich in dieser Stadt wirklich heimisch fühlt und sie nicht nur aus dem Hotelzimmer kennt. Das könnte übrigens auch ein Christian Thielemann sein, der über den eigenen Schatten springt.
Robert Braunmüller