Spitzentöne entdecken!
Sie war eine der Sensationen in Wagners „Ring”, den Zubin Mehta 2009 in Valencia dirigierte. Die auf DVD gebannte Inszenierung stammte von der Theatertruppe La fura dels baus. Nun arbeitet Jennifer Wilson wieder mit Mehta und den wilden Katalanen zusammen: Sie singt die Titelrolle in Giacomo Puccinis „Turandot”. Premiere ist am heutigen Samstag im Nationaltheater.
AZ: Frau Wilson, wer Turandots Rätsel löst, darf sie heiraten. Falsche Antworten werden allerdings mit dem Tod bestraft. Ist das nicht eine schreckliche Frau?
JENNIFER WILSON: Turandot gilt als kalte Femme fatale, die aus purer Lust an der Grausamkeit Männer köpfen lässt. Ich halte das für ein Missverständnis. Ihr Gatte wird Kaiser von China. Sie versucht also, durch die Rätsel unwürdige Kandidaten auszuschalten.
Am Ende des zweiten Akts löst Kalaf die Rätsel, aber sie hält ihn trotzdem hin.
Sie weiß noch nicht genügend über ihn und möchte überzeugt werden. Erst der Tod der Liu verwandelt sie.
An dieser Stelle bricht Puccinis Komposition ab. Das Schlussduett stammt von Franco Alfano, eine neuere Version von Luciano Berio. Welche werden Sie singen?
Keine von beiden. Unsere Aufführung endet mit Lius Tod. Durch ihr Opfer wird aus der eisigen Prinzessin eine liebende, leidenschaftliche Frau. La fura dels baus haben das sehr überzeugend inszeniert, deshalb scheint mir das Duett verzichtbar.
Die Rolle gilt als extreme Herausforderung.
Das stimmt. Aber wer die Spitzentöne beherrscht, hat es leichter. Die waren schon immer meine Stärke. Außerdem singt die Turandot nur etwa 25 Minuten, und das ist kein Vergleich mit zwei Stunden Isolde.
Sie haben erst mit 34 Jahren debütiert, und das gleich als Turandot. Warum so spät?
Meine Karriere verlief im Zickzack. Ich konnte aus finanziellen Gründen mein Studium an der Cornell University nicht abschließen. Deshalb war es für mich schwer, in den Opernbetrieb hineinzukommen. Ich war dann Redaktionsassistentin bei Radio Free Europe.
Sie sind also fast eine Kollegin!
Nicht wirklich, ich habe dort Artikel gescannt und Korrektur gelesen. Es war eine eher untergeordnete Tätigkeit, die ich spannend fand, weil damals der Eiserne Vorhang fiel. Mit dem Ende des Kalten Krieges wurden allerdings bei dem Sender Stellen gestrichen. Dann ging ich für sechs Jahre in den Chor der Oper von Washington.
War das ein gutes Training für Hauptrollen?
Ich finde schon. Man lernt, einen Dirigenten über den Monitor zu verfolgen. Und wenn ein Chorsänger mitten in einer Szene das Kostüm verliert, eilt nicht gleich ein Ankleider herbei. Außerdem habe ich gelernt, meine Stimme zurückzunehmen.
Trotzdem erstaunt es angesichts des Mangels an dramatischen Stimmen, dass Sie so lange unbemerkt geblieben sind.
Ich halte das für einen Vorteil. Für das dramatische Repertoire sollte ein Sänger menschlich, musikalisch und körperlich reif sein. Übrigens hat mir an der Hochschule ein Lehrer vorhergesagt, dass ich nie dramatischere Rollen singen werde als Mozarts Fiordiligi.
Wie kam’s zum Durchbruch?
Die Sänger Evelyn Lear und Thomas Stewart haben mich gefördert. Ich hatte die Gelegenheit, Rollen mitzustudieren und bin am Beginn meiner Karriere oft für Jane Eaglen und Deborah Voigt eingesprungen. Kurz nach meiner Turandot an der Oper von Connecticut debütierte ich dann 2002 als Helmwige in der „Walküre” an der Oper Chicago.
Was machen Sie, wenn Sie nicht singen?
Ich genieße die Orte, an denen ich singe. Man weiß nie, wie die Karriere weiter geht und ob man jemals wieder hinkommt. Außerdem habe ich ein Haus in Virginia und reite gern.
Das schadet für die Brünnhilde nie.
Ich rede meinem Pferd auch immer ein, dass es Grane sei.
Premiere am Samstag, 19 Uhr, im Nationaltheater, ausverkauft. Die DVD von Wagners „Ring” mit Wilson bei C major