Spät in Schuss
Der Wettbewerb in Cannes schwächelt weiter vor sich hin, trotz politisch engagierterer Filme. Aber die Werbeplattform des Festivals funktioniert noch, das nutzt auch Mick Jagger
Das wahnsinnige Gekreische ist nur noch Gejohle, die Verzückung von 1971 ist nostalgischer Bewunderung gewichen. Aber immer noch stehen hunderte in Pulk-Schlangen um das Palais Stephanie, manche seit Stunden, darunter sogar Teenies. Ja, Mick Jagger ist aus einer Villa in den Hügeln runtergekommen an die Croisette. Der Film „Stones in Exile" wird gezeigt, der riesige Kinosaal müsste dreimal so groß sein. Wer trotz Karte nicht hineinkommt, hat Pech gehabt.
„Damals waren wir jung, schön und dumm", sagt der Herr mit rotbraun gefärbtem, längerem Haar in Jeans, Turnschuhen und dunkel glänzendem Sakko ins Mikro vor der Leinwand: „Jetzt sind wird nur noch dumm." Gelächter im Saal. Mick Jagger erinnert sich an die Zeit, als die Stones – vor der britischen Steuerfahndung auf der Flucht – in einer Villa in Villefranche-sur-Mer „Exile on Main Street" aufnahmen. Fans kennen Sequenzen aus dem Dokumentarfilm über die Tour 1972, die Stones kommen auch rückblickend zu Wort und es gibt Bilder, wie Mick in Saint-Tropez Bianca heiratet – übrigens sind als Hochzeitsgäste auch Paul McCartney und Ringo Starr zu sehen.
Die Ironie der Veranstaltung, die „Cannes rockt", wie die französische Presse schreibt, ist: „Stones in Exile" läuft außerhalb des offiziellen Festivalprogramms und wird von einer Produzentenvereinigung zu Verkaufszwecken vorgeführt – und prompt an das Bayerische Fernsehen verkauft.
Langsamer Schwung
Auch das Festival kommt noch einmal in Schwung – mit brisanter Politik. Doug Liman, der US-Blockbuster-Lieferant („Bourne Identität", „Mr. & Mrs. Smith“), unternimmt in „Fair Game" den Versuch, mit melodramatischen Mitteln politische Aufklärung über die Irak-Kriegs-Lüge zu leisten. Naomi Watts spielt die wahre Geschichte der CIA-Agentin Valerie Palme, die völlig den Glauben an die Anständigkeit der Bush-Administration verliert. Sean Penn, immer für harte Statements gut, spielt ihren aufsässigen Mann.
Penn ist diesmal nicht nach Cannes gekommen, obwohl er als Jury-Präsident hier 2006 selbst mehr politisches Engagement des Films gefordert hatte. Aber der Film ist unfassbar konventionell und stützt letztlich die Family-Value-These, dass man sich nur auf die traditionellen Familien-Bande verlassen kann. Das ist zu wenig, wenn man zurück denkt, mit welchem aggressiven Witz Michael Moores „Fahrenheit 9/11" hier in Cannes 2004 die Goldene Palme abräumte.
Aber nicht nur die Amerikaner arbeiten sich an der Irak-Kriegsschuld ab: Der Brite Ken Loach rollt mit „Route Irish" die inoffizielle Kriegsführung mit Söldnern auf, die fast unkontrolliert einen besonders schmutzigen Krieg führen. Die Geschichte wird erzählt anhand zweier Schulkameraden aus Liverpool, von denen einer sich auf den Weg macht, herauszufinden, warum der andere auf der gefährlichsten Straße der Welt, der irakischen „Route Irish", ums Leben kam. Dazu hat schon Paul Haggis vor drei Jahren Tommy Lee Jones als Soldatenvater packender ins „Tal von Elah" geschickt.
Jetzt wartet Cannes noch auf die Kriegsschuld-Frage der Franzosen – natürlich nicht im Irakkrieg. Am Ende des Festivals wird „Außer Gesetz" gezeigt über den Algerienkrieg. Der arabo-französische Regisseur wurde schon vor der Weltpremiere als Nestbeschmutzer angefeindet.
Adrian Prechtel